Sommerreihe – Zusammenleben Gemeinsam Fuß fassen

Alltag bei "Life Works": Mobin kocht, Stephan schaut ihm fachmännisch über die Schulter

Sonne strahlt durch die Fenster des ehemaligen Telegraphenamts in der Carl-Petersen-Straße in Hamm. Mobin (19) zieht die Jalousien herunter. Das Licht blendet. Er beugt sich wieder über die Zwiebel auf dem Brettchen vor ihm und schneidet sie konzentriert.

Neben ihm rührt Gina (18) in einem der beiden großen Töpfe auf dem Herd. Dampf steigt auf. Es duftet nach Knoblauch und Curry.

Hühnchen in Tomatensoße mit Reis: Das Rezept hat Mobins Mutter immer für ihn gekocht. Er ist aus Afghanistan geflohen, seine Familie hat er dort zurück gelassen. Er ist ein schmaler junger Mann, trägt einen schwarzen Pullover und eine enge graue Jeans. Gemeinsam mit Gina ist er heute mit Kochen dran.

Unterstützung bei der Berufswahl

Alltag bei „Life Works“, einem Jugendhilfe-Projekt des Rauhen Hauses, das seit Anfang des Jahres besteht. Neun junge Männer und Frauen ab 16 Jahren wohnen zusammen auf 280 Quadratmetern Fläche. Sie haben Psychiatrieerfahrung und wollen wieder Fuß im Alltag fassen. Fünf Pädagogen und Psychologen begleiten sie dabei. Rund um die Uhr ist ein Betreuer da.

Das Besondere von „Life Works“ ist die Unterstützung bei der Berufswahl. Wer hier wohnt, möchte nicht mehr in die Schule zurück. Gemeinsam mit den Betreuern kann er oder sie herausfinden, wohin der Weg gehen soll. „In der Klinik drehte sich alles um die Krankheit“, sagt Leiterin Kerstin Gast. „Hier können die Jugendlichen ihre Fähigkeiten und Interessen entdecken.“

Zurück in die Familie geht es nicht mehr

Die Mitarbeiterinnen helfen dabei, einen Praktikumsplatz zu finden, Bewerbungen zu schreiben, sie motivieren und unterstützen auch emotional. Die Eltern könnten diese Art von Begleitung nicht leisten, so Gast. Häufig war das Zusammenleben in der Familie so konfliktreich, dass eine Rückkehr dorthin die psychische Belastung verstärken würde.

Jugendämter, Sozialarbeiter in Kliniken oder Flüchtlingseinrichtungen wenden sich an Gast und ihre Kollegen. Die Jugendlichen fangen behutsam mit wenigen Stunden am Tag an und steigern die Zeit im Betrieb. In Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt finden die Betreuer die besten Möglichkeiten auch für geförderte Ausbildungen.

Im Zusammenleben lernen die Jugendlichen ihrem Tag eine Struktur zu geben und miteinander auszukommen. Sie kochen an vier Tagen pro Woche in Zweier-Teams. Am Küchenschrank hängt ein Putzplan. Jeder hat seinen Waschtag. Donnerstags treffen sich alle zur Besprechung. Wer möchte, kommt mit auf gemeinsame Ausflüge, zum Beispiel auf den Dom oder in den Heidepark.

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  • Felix lebt seit Februar in der Wohngruppe. Fotografiert werden möchte er nicht. Er kommt aus einem kleinen Dorf im Landkreis Segeberg. Dort wohnte er mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder. Seine Eltern sind getrennt, seit er fünf Jahre alt ist.

    Seit seiner Kindheit leidet er an Schlafstörungen. Mit sechzehn fing er an Hasch zu rauchen. Seinen Hauptschulabschluss schaffte er noch. „Aber dann habe ich lieber gekifft, als zur Schule zu gehen“, erzählt er.

    Mit seiner Mutter lag er im Dauerclinch. Als nichts mehr geht und der Arzt den Verdacht auf eine schizophrene Störung äußert, geht Felix auf Betreiben seines Vaters in die Jugend-Suchtstation des UKE. Dreieinhalb Monate bleibt er dort, schafft den Entzug. Der Verdacht bestätigt sich nicht. Nach Hause will er nicht mehr zurück.

    Die Sozialarbeiter der Klinik fragen bei „Life Works“ an. Felix stellt sich vor und entscheidet sich einzuziehen. An Vieles in den vergangenen Jahren kann er sich nicht mehr erinnern. Sechs Monate nach seinem Einzug weiß er aber, dass er Erzieher werden möchte.

    Derzeit absolviert er ein Praktikum im inklusiven „ Kulturhaus Bienenkorb“ des Rauhen Hauses. Am 1. September wird er eine dreijährige Ausbildung zum Haus- und Familienpfleger beginnen. Für diese Zeit möchte er in der Wohngruppe bleiben. Seine besten Freunde sind jetzt seine Mitbewohner Lukas und Benjamin. Wenn schönes Wetter ist, gehen sie in den Hammer Park oder spielen Gitarre auf dem Balkon.

    Später kann er einen Stock höher ziehen, in die Gruppe mit ambulanter Betreuung. Und irgendwann wird er in einer eigenen Wohnung leben, auf dem Land: „Die Großstadt ist mir auf Dauer zu hektisch.“

  • In der Küche schmeckt Mobin die Soße ein letztes Mal ab. Gina geht gemeinsam mit Betreuerin Magdalena Fiedler (27) durch, wer heute zum Essen da ist. Während sie den Tisch deckt, kommt sie auf das Thema Sucht zu sprechen. Sie beginnt zu philosophieren. Fragt sich, was alles zu einer Sucht werden kann. Auch einkaufen? „Alles kaufen können, was man gerne hätte, das wäre toll“, sagt Gina. „Jedes Verhalten ist furchtbar, wenn man es nicht mehr sein lassen kann und die Kontrolle verliert“, entgegnet Magdalena Fiedler.

    Was bedeutet der Diplom-Psychologin das Miteinander mit den Jugendlichen? Fiedler: „Es ist toll, zu beobachten, wie sie sich entwickeln. Wie sie entdecken, dass sie an der Gesellschaft teilhaben können mit dem was sie sind und können.“

    Der Reis dampft, als Mobin ihn vom Topf in die große Schale füllt. Gina ruft derweil die anderen zum Essen. Dann beginnen sie gemeinsam. Lukas erzählt, dass er Rückenschmerzen hat. Seine Ausbildung als Landschaftsgärtner hat nach der Sommerpause wieder begonnen. Felix legt immer mal wieder seinen Kopf mit der schwarzen Strickmütze auf den Tisch, so müde ist er.

    Stephan, der in der Gastronomie arbeitet, faltet eine Serviette zum Fächer. Morgen ist er mit Kochen dran, Pizza will er machen. Elina hat ein Hefeteigrezept für ihn. Zwei Minuten später beginnt sie zu weinen. Sie fühle sich heute nicht so gut, sagt sie. Die anderen reagieren ruhig. In ihrem Zusammenleben hat all das Raum.