Sommerserie – Teil 8 Glück und Verrücktheit

Von Matthias Neumann

 

Es ist erst ein paar Wochen her, da kam ich spät von einer Hochzeit an der Ostsee zurück. Plötzlich krachte es auf der anderen Seite der Autobahn: Eins der Autos schleuderte in die Leitplanke, die dadurch abriss. Ein großes Stück davon segelte genau auf mein Auto zu und überflog es um einen halben Meter. Ich konnte gar nicht so schnell bremsen, als das alles in Sekundenschnelle passierte. Das hätte gut schiefgehen können – und ich hätte keine Muße mehr gehabt, hier über das Glück zu sinnieren: Schwein gehabt. Also etwas geschenkt bekommen, was ich nicht verdient habe und es auch nicht verdienen kann.

 

Meine fromme Mutter hätte gleich die Karte „Fügung“ gezogen. Das System ist nicht so ganz überschaubar, deshalb bin ich da lieber etwas vorsichtig. Wahr ist aber auch, dass ich eine ganze Menge solcher Geschichten erzählen kann, in denen ich per Zufall mit heiler Haut davonkam.

 

Ich kenne den Gedanken auch von Sören Kierkegaard. Der meint: „Es ist wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber man vergisst darüber den Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.“ Der staunende Rückblick ist ja noch keine sichere Bank, auf der ich es mir hinfort gemütlich machen könnte. Dieses Adjektiv nützt auch dem Pensionisten wenig. Das Hamburger Sprichwort: „Für’s Gewesene gibt der Kaufmann nichts!“ hat ja seine eigene Wucht und Wahrheit. Manche denken ja gelegentlich: Wenn ich erst mal im Ruhestand bin, geht das Leben aber richtig los! Dann werde ich den Wecker aus dem Fenster schmeißen, gemütlich mit dem Hund in der Toskana herumspazieren und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

 

Natürlich ist es wunderbar, wenn das Telefon nicht dauernd klingelt. Und noch wunderbarer ist es, wenn der Pegel des unnötigen Ärgers sinkt. Aber ich höre auch trostlose Geschichten, in denen Ruheständler zur Landplage mutieren und in „ihrer“ alten Gemeinde für tiefes Aufseufzen sorgen, weil sie sich störrisch weigern, das Reich Gottes in der Zukunft zu suchen, sondern in der Vergangenheit kleben.

 

Manchmal hilft da ja durchaus ein Blick in die Bibel. Wie war das doch gleich mit der Hand am Pflug und der Blickrichtung? (Lk 9,62) Jesus antwortet auf die Frage, wer ihm nachfolgen könne: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“ - Genau. Obwohl mir das total verständlich ist, wenn einer über Jahrzehnte einer Gemeinde treu gedient hat, sein eigenes Leben dabei völlig aus dem Blick verlor und jetzt plötzlich möglichst 100 Kilometer weit vom alten Kirchturm sich als Aussortierter neu einsortieren soll.

 

Ich hatte das Glück, kurz vor Klappenschluss eine Besinnungswoche zum Thema Ruhestand zu absolvieren. Es stellte sich heraus, dass ich von den Männern und Frauen im Kurs der Einzige war, der mit seiner Erstfrau verheiratet ist, dessen drei Kinder alle im unmittelbaren Umkreis leben und alle Enkelkinder Schlange stehen, um mit einem kleinen Koffer in der Hand ein Wochenende bei Oma und Opa anzutreten. Ich hatte damals schon eine ganze Menge Bücher zum Thema Alter intus – witzige und theologische inklusiv. Ich wusste schon damals auch, dass nur ein glatter Schnitt mit dem Gestern hilfreich sein würde, um den neuen Horizont in den Blick zu bekommen. Wie? Die geschenkte Zeit zu nutzen, in der ich nicht im Zaumzeug der Pflichten und fremder Erwartungen durch die Jahre zuckele, sondern Leben in eigener Regie übe.

 

Das geht, wie sich leicht denken lässt, nicht ganz ohne Geburtsschmerzen ab – aber es gibt ja die Verheißung, dass die Auferstehung ins Leben ein Prozess ist, der schon im Diesseits mit Segen beschüttet wird. Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Frühpensionär beerdigt, der mit 98 Jahren starb. Auf die Frage, was er in den Jahren seit seinem 58. Geburtstags gemacht hätte, antwortete seine Frau: „Nichts.“ Das geht wohl auch.

 

Die andere Seite vom Straßengraben auf dieser Strecke wird bevölkert von den hyperaktiven ADHS-Greisen, die in allen möglichen Gremien und Ehrenämtern ihrer „Entwichtigung“ rastlos trotzen. Das ist auch nicht unbedingt mein Traum vom Glück. Eher Zeit dafür zu haben, beim Bäcker mit einem kleinen Jungen im Kinderwagen ins Leben hineinzulächeln – und dafür einfach Zeit zu haben. Kitsch? Na klar – wie Sonnenuntergänge, leichte Verrücktheit (noch ausbaufähig) und ein dankbares Herz dazu auch.

 

 

 

Matthias Neumann war bis zu seiner Pensionierung im Sommer 2012 Pastor an der ev.-luth. Christuskirche in Hamburg-Othmarschen.