Karfreitagspredigt von Horst Gorski Jesus - ein glücklicher Mensch

Wie die in einem Parkhaus vergewaltigte und getötete Lena; oder das Leid der ausländischen Familien, deren wehrlose Väter von jungen Neonazis unerkannt hingerichtet worden sind - all das erregt unsere Gemüter und die Öffentlichkeit. Und sicher geht es Ihnen wie mir, dass Sie über der Zeitung oder vor dem Fernseher für Momente die Augen schließen und sich das Leid vorzustellen versuchen, das diesen und so vielen anderen Menschen geschieht.

 

Die Leidensgeschichte Jesu hat es - seltsamerweise - schwerer. Die Worte sind bekannt, sind von Bach und anderen in wunderschöne Musik gefasst worden. Sie berühren uns eher wohlig, aber kaum mit dem Schrecken, der da in Wirklichkeit berichtet wird. Deshalb will ich einen Moment bei Jesus persönlich und seinem Leben und Leiden bleiben. War er ein glücklicher Mensch?

 

Die Evangelien sind diskret. Sie erzählen wenig über seine persönlichen Regungen. Er hatte Eltern und Geschwister. Wir hören aber, dass er sich abweisend zu ihnen verhält, dass ihm andere näher sind. Ungewöhnlich ist das nicht, das gibt es auch heute, aber ein bisschen traurig ist es schon, wenn man mit der eigenen Familie nicht zurechtkommt. Er hat vermutlich den Beruf des Zimmermanns gelernt und einige Jahre gearbeitet. Ob er Frau und Kinder hatte, berichten die Evangelien nicht. Es gibt manche Spekulationen darüber. Aber selbst wenn er sie hatte, kann er nur vorübergehend mit ihnen gelebt haben. Zu der Zeit, zu der die Evangelien genauer über ihn berichten, also mit ca. 30 Jahren, hat er jedenfalls nicht mit zusammen gelebt. Ihm war von Kindheit an bewusst, dass er für einen besonderen Menschen gehalten wird. Er wird viele Jahre innerlich darum gerungen haben, wer er ist und was er ist.

 

Was uns die Bibel so statisch und fertig berichtet, war in Wirklichkeit eine Entwicklung. Als ihm klar wurde, dass er derjenige war, den sein Volk als Menschensohn oder Messias erwartete, fing er an, zu predigen, wanderte durch seine Heimat Palästina und sammelte Menschen um sich. Immer wieder wird berichtet, dass ihm dabei neben Begeisterung auch Ablehnung entgegenschlug. Selbst vom Unverständnis seiner Jünger (und vermutlich auch Jüngerinnen) wird mehrmals berichtet.

 

Mit bewundernswerter Konsequenz geht er trotzdem seinen Weg, predigt, heilt, erweckt Tote zum Leben, legt sich mit den Führern seines Volkes und der römischen Besatzungsmacht an. Diese Zeit des öffentlichen Wirkens hat nicht mehr als 3 Jahre gedauert, manche Forscher glauben, dass es sogar nur wenige Monate waren. Wie er endete, wissen wir: verraten und verlassen von seinen Freunden, gefangen genommen, gefoltert und grausam hingerichtet.

 

Mit Glück scheint das alles nicht viel zu tun zu haben. Jedenfalls nicht, wenn wir unsere Maßstäbe anlegen. Was macht für uns ein glückliches Leben aus? Wenn man den Umfragen unter jungen Menschen glauben kann, spielt die Familie wieder eine große Rolle. Heiraten, Kinder bekommen, einen gut bezahlten Beruf, Urlaub haben, in ferne Länder reisen, sich etwas leisten können: eine schöne Wohnung oder ein Haus, ein Auto, vielleicht auch Statussymbole wie Markenklamotten und Hummer und Sekt in der Mittagspause. Die Vorstellungen der älteren Menschen mögen etwas bescheidener sein, aber sie sind doch ähnlich. Sicher spielt, je älter man wird, die Gesundheit eine immer größere Rolle: dass zum Glücklichsein auch die Gesundheit gehört. Manche wollen auch noch jung wirken. Alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein.

 

Nach diesen Kriterien war Jesus kein glücklicher Mensch. Fast nichts von dem, was uns zu unserem Glück fehlt, hatte Jesus. Aber was heißt das schon!? Wenn wir uns umgucken in unserem Bekanntenkreis und uns fragen, welche glücklichen Menschen wir kennen, dann ist die Antwort vermutlich ziemlich differenziert. Es sind oft nicht die Menschen, die alle Glücksattribute besitzen, die wirklich glücklich sind. Oft sind es gerade andere, die viel erlebt haben, viel durchmachen mussten, und von denen wir trotzdem den Eindruck haben: Irgendwie scheinen sie in sich zu ruhen und glücklich zu sein.

 

Bevor ich diesen Gedankenfaden weiterspinne, wechsele ich zwischendurch mal die Perspektive: Waren eigentlich die anderen glücklich? Man könnte das spiegelbildlich vermuten: wenn sie den Einen unglücklich gemacht haben, haben sie doch erreicht, was sie wollten und müssten glücklich sein. Sie haben sich schließlich ausgetobt, wie sie wollten. Die Soldaten haben ihrem Sadismus freien Lauf gelassen. Die Freunde habe sich die Freiheit genommen, sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staub zu machen. Die Umstehenden, die ihn verspotten und lästern scheinen ja auch ihren Spaß zu haben. Also wenigstens dies eine Schar glücklicher Menschen?

 

Das glaube ich nicht. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich das nicht weiß. Ich weiß auch nicht, was in Menschen vorgeht, die andere quälen und foltern. Die historische Forschung sagt, dass es oft ganz normale biedere Familienväter sind, die in KZs oder Gefängnissen zu Folterern und Sadisten werden. Also keine Monster von Haus aus. Vielleicht gar nicht so verschieden von uns. Vielleicht hat uns das Leben nur erspart, in die Versuchung zu kommen. Aber glücklich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein glücklicher Mensch andere verspottet, verrät oder foltert. Ich setze an dieser Stelle allerdings eine andere, tiefere Definition von Glücklichsein voraus als oben mit all den schönen Attributen wie Familie, Haus und Geld. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass es in Wirklichkeit zutiefst unglückliche Menschen sein müssen, die ihre Freude an Spott und Quälerei haben. Menschen, die große innere Spannungen mit sich herumtragen, unzufrieden mit sich selber sind, möglicherweise sogar voller Selbsthass, den sie aber nach außen tragen.

 

Immer wieder ist auch die Frage gestellt worden: Wo wären wir selber in dieser Geschichte vorgekommen, wenn wir damals gelebt hätten? Natürlich muss das hypothetisch bleiben, aber meine These für mich ist: Vermutlich genau da, wo ich heute auch bin: Als Zuschauer. So wie ich heute menschliche Schicksale sehe, von ihnen lese, aber passiv bleibe. Zuschauer. Wenn's gut geht, vielleicht nachdenklicher als andere. Soll ich mir darauf etwas zugute halten? Wenn ich damals gelebt hätte, hätte ich vielleicht etwas weiter weg zu den Umstehenden gehört, mit Sicherheitsabstand, um nicht in das Geschehen verwickelt zu werden. Hätte nicht gespottet, aber auch nichts unternommen. Wie sollte ich auch, angesichts der Übermacht? hätte ich mir gesagt. Ich hoffe immer, wenn Gott mich mal in eine Situation führt, in der vor meinen Augen einem Menschen Gewalt angetan wird, dass ich dann mutig genug bin, das Richtige zu tun. Aber, wer weiß...

 

Es scheint also in der Geschichte überhaupt keine glücklichen Menschen zu geben. Oder vielleicht am Ende doch Jesus, als einziger? Das meine ich nicht zynisch. Sondern so:

 

Jesus ruft am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das kann man auf den ersten Blick so verstehen, als sei zu allem Übel mit den Menschen nun auch noch die Ferne zu Gott hinzugekommen. Man kann das aber auch ganz anders verstehen: Jesus spricht oder betet hier mit Worten aus dem 22. Psalm. Er fällt also gerade nicht aus seinem Glauben, seiner Tradition heraus, sondern benutzt ein Gebet seiner Tradition, um Gott seinen tiefen Schmerz zu klagen. Das ist etwas ganz anderes. Die Klartextübersetzung könnte heißen: "Mein Mensch, mein Mensch, warum hast du mich verlassen?" Denn so war es ja in Wirklichkeit. Die Menschen waren untreu und brutal. Die Verbindung zu Gott aber war offenbar gerade nicht abgerissen. Sonst hätte Jesus in seinem Schmerz nicht ein Gebet seiner Tradition sprechen können.

 

Um ein innerlich glücklicher Mensch zu werden, d.h. mit sich im Reinen, versöhnt mit dem eigenen Leben, müssen wir die drei großen Leiden überwinden: die Angst, die Schuld und die Einsamkeit. Das sind, in allen individuellen Varianten, die drei großen Leiden, die uns Menschen bedrücken können. Die Angst vor konkretem Unglück, die Angst vor dem Leben insgesamt, vor der Leere, dem fehlenden Sinn. Die Schuld, weil kein Mensch unschuldig durchs Leben kommt. Jeder kennt belastende Erinnerungen, wo er schuldig geworden ist. Und die Einsamkeit, die etwas anderes ist als das Alleinsein. Einsamkeit ist unfreiwillige Isolation, fehlende Geborgenheit, die Bedürftigkeit nach Ergänzung des Lebens durch andere.

 

Einen so schweren Weg wie Jesus kann man wohl nur gehen, wenn man diese drei Leiden überwunden hat, in ganz engem Kontakt zu Gott überwunden hat. Die Angst abgelegt hat, weil man weiß, dass das Leben in Gottes Händen liegt und wir niemals tiefer fallen können als in sie. Die Schuld, weil Gott sie uns vergibt, egal wie schwer wir uns selber vergeben können. Und die Einsamkeit, weil es in Gottes Nähe keine Einsamkeit mehr geben kann, sondern nur noch Geborgenheit, Gemeinschaft mit einem Du, das mich liebevoll anschaut.

 

Wenn das so ist, dann hängt Glücklichsein und Unglücklichsein wenig von den äußeren Umständen, aber viel von dem ab, was in uns ist. Und in diesem - nur in diesem - Sinne mag Jesus vielleicht sogar der glücklichste Mensch gewesen sein, den es je gab. Denn niemand war so versöhnt mit Gott wie er.

 

Sein Weg ans Kreuz ist für uns ein Mahnmal, dass alle Gewalt da aufhört, wo Menschen zu dieser inneren Versöhnung finden. Die Liebe zu Gott und den Menschen; die Liebe, die vor Schwierigkeiten nicht wegläuft; die Liebe, die sich sogar für andere hingibt - diese Liebe gründet in einem zutiefst - so verstanden - glücklichen Leben. Wo Angst, Schuld und Einsamkeit durch die Nähe zu Gott keine Rolle mehr spielen, bleibt nur noch die Liebe. Und dieses Zeugnis hält Jesus durch mitten in der brutalen Welt. Bis heute.

 

Propst Horst Gorski - Karfreitagspredigt über Matthäus 27, 33-50