Gastbeitrag Und verliere nie die Lust am Gehen – Spiritualität der Bewegung

Von Blaise Pascal (1623-62) stammt der Gedanke, „dass das ganze Unglück des Menschen aus einer einzigen Ursache kommt: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können.“ Schon zu Beginn der Neuzeit, in den Anfängen der Mobilität einer modernen technischen Welt, erkennt er die Gefahr der Zerstreuung. Der ständige Wechsel des Ortes, der unbändige Drang zur Bewegung, Unruhe und Rastlosigkeit erschienen Pascal als die Quelle für die psychischen Schwierigkeiten des Einzelnen und er sah darin auch die Ursache für gesellschaftliche Konflikte.

 

Unterwegs sein

Dieser äußerst kritische Blick auf die Mobilität ändert nichts daran, dass wir Menschen von Anbeginn unterwegs sind. Verkehr verbindet Menschen, ermöglicht Kontakte mit anderen Ländern und Völkern. Wohnort und Arbeitsplatz können auseinander liegen, Verkehr bringt Produkte aus aller Welt zu den Konsumenten. Die Erfindung der Eisenbahn, des Automobils und des Flugzeugs löste eine Revolution der Mobilität aus. Das Fahren wird zum Durchfahren, zum Transit. Die Erfahrung des Reisens wird zum flachen Transport.

 

Die allgemeine Erreichbarkeit der Dinge macht sie uns nicht vertrauter, sondern entfremdet sie uns, wenn wir uns auf die Erfahrung des Fremden nicht mehr einlassen. Was erfährt der Tourist am asiatischen Strand wirklich von der Kultur des Landes und der Menschen? Die ökologische, soziale und psychische Belastung der Verkehrsströme zwingt uns, das richtige Maß zu suchen, sowohl für den täglichen Verkehr in unserer Heimatstadt als auch für Urlaubsreisen.

 

Verbindung mit dem inneren Weg

Eine verlorene Dimension der Mobilität ist für das Finden des heilsamen Maßes entscheidend wichtig und heute wieder modern: Die Fußläufigkeit, das Gehen und Laufen. Gehen wirkt Persönlichkeit bildend. Die sportliche Variante weckt die Lebensgeister, stärkt die Willenskraft und wirkt heilsam auf Leib und Seele. Die geistliche Variante, Pilgern und spirituelles Laufen, verbindet durch das äußere Gehen mit dem inneren Weg.

 

Auf der Suche nach dem ureigenen Selbst ist das Gehen eine wunderbare Möglichkeit. Der dänische Christ und Philosoph Sören Kirkegaard schreibt 1847 an seine Schwägerin: „Verlieren Sie vor allem nicht die Lust dazu zu gehen! Ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an, und entlaufe so jeder Krankheit: ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde… je mehr man stillsitzt, kommt einem das Übelbefinden nur umso näher. Allein in der Bewegung ist die Gesundheit und das Heil zu finden.“

 

Aufbrechen heißt Loslassen

In den äußeren Wegen spiegelt sich der innere Weg des Menschen. Auch wenn nicht jeder Weg ins Unbekannte führt und so einschneidend ist wie der Aufbruch Abrahams, von dem die Bibel berichtet, dass er bereits 75 Jahre als gewesen sein soll. Aufbrechen heißt loslassen, Sicherheiten aufgeben, aber auch auf ganz neue Weise frei zu sein. Die Etappe zwischen Aufbruch und Ziel ist das Unterwegssein. Der Reisende hat vertrauten Boden verlassen und muss sich als Fremder orientieren. Das Betreten des Neulands schärft die Sinne, erhöht die Wahrnehmungsbereitschaft.

 

Der christliche Glaube versetzt Menschen in Bewegung und „macht Beine“. Glaube ist kein Standpunkt, sondern eine Bewegung. Die Selbstbezeichnung der frühen Christen als „Anhänger des neuen Weges“ (z.B. Apostelgeschichte 9,2) unterstreicht die Weg-Struktur des christlichen Glaubens.

 

In der Bibel ist gerade die Phase des Unterwegsseins ein klassischer Ort der Glaubens- und Gotteserfahrung. Wo Menschen äußerer Heimatlosigkeit und Fremde ausgesetzt sind, stellt sich eindringlich die Frage, was wirklich trägt und Halt gibt in dieser Welt. Und das ist nicht ein fester Ort, der zur Heimat wird, sondern eine feste Beziehung innerhalb einer Bewegung. „Glauben“ bedeutet im ursprünglichen hebräischen Wortsinn „sich festmachen in Gott“. Gott selbst setzt in Bewegung und nur die Beziehung zu ihm wird zum Ankerplatz. So bekennt der Psalmbeter: „Du führst mich hinaus ins Weite“ (Ps 18,20). Der Gottesname, der Mose offenbart wird, kann so übersetzt werden: “ Ich bin der Mit-gehende“ (Exodus 3,14).

Das gilt für das Aufbrechen zu neuen Wegen ebenso wie für das tägliche Unterwegssein.