Vor 50 Jahren begann die "Spiegel-Affäre" Als die Bürger den Protest lernten

Es ist 21.30 Uhr, als die Staatsmacht am 26. Oktober 1962 im Hamburger Verlagsgebäude des "Spiegel" aufmarschiert. Die Fahnder haben einen Durchsuchungsbeschluss und Haftbefehle gegen sieben Mitarbeiter des Magazins. Mit Mühe können die Redakteure, die gerade eine neue Ausgabe produzieren, die sofortige Räumung abwenden. Sie arbeiten bis 2.45 Uhr weiter - unter permanenter Beobachtung der Ermittler, die sämtliche Druckfahnen gegenlesen. Anschließend werden alle Zimmer versiegelt.

 

Massive Repressionen gegen die Presse

Nie zuvor hatte es in der Geschichte der damals noch jungen Bundesrepublik derart massive Repressionen gegen ein Presseorgan gegeben. Die "Spiegel-Affäre" fand auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges statt, als über einen atomaren Angriff der Sowjetunion spekuliert wurde. In diesem Klima latenter Paranoia veröffentlichten die "Spiegel"-Autoren Conrad Ahlers und Hans Schmelz am 8. Oktober 1962 den Artikel "Bedingt abwehrbereit", der auf 16 Seiten die strategische Politik des damaligen CSU-Verteidigungsministers Franz Josef Strauß auseinandernahm.

 

Strauß wollte auf vergleichsweise billige Atomwaffen setzen, anstatt die konventionellen Brigaden teuer aufzustocken. Er entwickelte, wie man heute weiß, sogar Pläne für einen präventiven atomaren Erstschlag und beschwor so einen Konflikt mit der Nato herauf. Das Nato-Planspiel "Fallex 62" lieferte schließlich das Ergebnis, dass die Strauß-Strategie für die gewünschte "Vorwärtsverteidigung" - also ein Zurückdrängen sowjetischer Truppen direkt an der Grenze - vollkommen untauglich sei.

 

Ahlers und Schmelz berichteten im "Spiegel" ausführlich über das Planspiel, trocken im Stil und haarklein in den Details. Einige Passagen, die Ergebnisse des Planspiels wiedergaben, waren schockierend: "Nach wenigen Tagen waren erhebliche Teile Englands und der Bundesrepublik völlig zerstört. In beiden Ländern rechnete man mit zehn bis fünfzehn Millionen Toten."

 

Vorwurf Landesverrat

Für die Bundesanwaltschaft war der Artikel ein klarer Fall von Landesverrat. Sie leitete Ermittlungen ein und beauftragte - pikanterweise beim Verteidigungsministerium - ein Gutachten, das zu dem Ergebnis kam, in dem Artikel würden 41 Staatsgeheimnisse veröffentlicht. Dann wurde der Zugriff beim "Spiegel" vorbereitet. Die Chefredakteure Johannes Engel und Claus Jacobi wurden sofort verhaftet, Herausgeber Rudolf Augstein stellte sich einen Tag später der Polizei.

 

Strauß agierte im Hintergrund gegen das Magazin, das ihn schon früher scharf attackiert hatte. So erwirkte er durch ein nächtliches Telefonat mit dem deutschen Militärattaché in Madrid, dass Ahlers, der gerade in Spanien Urlaub machte, von Schergen der Franco-Diktatur verhaftet wurde. Ein Vorgehen, das die Bonner Staatsanwaltschaft später als Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung bewertete.

 

Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) stellte sich zunächst hinter Strauß und sprach im Bundestag von einem "Abgrund von Landesverrat im Lande". In der Öffentlichkeit regte sich allerdings heftiger Protest, sowohl in Studentenkreisen als auch im liberalen Milieu. "Stern" und "Die Zeit" unterstützten den "Spiegel" nicht nur publizistisch, sondern halfen auch mit Büroräumen aus, so dass das Nachrichtenmagazin weiter erscheinen konnte. Die "Spiegel"-Räume wurden am 26. November wieder freigegeben, Augstein blieb jedoch bis Februar 1963 in Haft - insgesamt 103 Tage. Dort erreichten ihn mehrere hundert Briefe und Päckchen, mit denen Leser ihre Solidarität ausdrückten.

 

Beginn der Bürgerbewegung

Die "Spiegel"-Affäre gilt heute auch als erster Meilenstein einer erwachenden Bürgerbewegung, die sich gegen staatliche Willkürmaßnahmen stellte. Franziska Augstein, Tochter des 2002 verstorbenen "Spiegel"-Herausgebers, schrieb kürzlich: "Mit der Spiegel-Affäre 1962 begann das Jahr 1968."

 

Die Affäre kostete Strauß den Ministerjob. Adenauer berücksichtigte den CSU-Mann nicht mehr, als er im Dezember 1962 ein neues Kabinett bilden musste. Zuvor waren alle fünf FDP-Minister aus Protest gegen Strauß zurückgetreten.

 

Die juristische Aufarbeitung der Vorfälle nahm mehrere Jahre in Anspruch. Im Mai 1965 entschied der Bundesgerichtshof, dass keine Beweise vorlägen, die einen wissentlichen Verrat von Staatsgeheimnissen durch Ahlers und Augstein belegten. Somit gab es kein Hauptverfahren. Strauß wiederum ging straffrei aus, weil ihm die Staatsanwaltschaft einen "Verbotsirrtum" zugutehielt.

 

Das Bundesverfassungsgericht befasste sich ebenfalls mit der Affäre. Zwar lehnten es die Richter 1966 ab, auf Antrag des "Spiegel" festzustellen, dass die Durchsuchungsanordnung gegen die Pressefreiheit verstoßen habe. Sie betonten aber zugleich, dass die Presse ihre Funktion nur dann erfüllen könne, wenn der Staat ihre Unabhängigkeit garantiere: So könne auch eine Veröffentlichung von militärischen Geheiminformationen durchaus "heilsame Folgen" haben.