Porträt über Barbara Niehaus Das Gottesreich ist eine Suppenküche

Sie ist schnell unterwegs: von der Küche in den Speisesaal, vom Garten ins Büro und hinüber ins Münster. Manchmal scheint es, als wäre die Frau mit den kurzen blonden Haaren an mehreren Orten gleichzeitig. Sie ist groß, schmal, wendig wie eine Langstreckenläuferin. Es drängt sie vorwärts. Barbara Niehaus spricht so schnell, dass man kaum mitkommt. Sie ist keine Pfarrerin. Aber die studierte Theologin predigt das Evangelium: im Alltagsgespräch, in der Suppenküche, in kirchlichen und politischen Gremien, gelegentlich im Talar auf der Kanzel. Sie möchte für alle verständlich sein. Ihr Motto: „Wir wollen so gut sein, dass es sich lohnt, für uns aufzustehen und sich auf den Weg zu machen“ – auf den Weg zur Suppenküche. Tatsächlich gewinnt sie freiwillige Mitarbeiter, Gäste und Spender.

 

Sie ist 48 Jahre alt. Mutter von vier Adoptiv- und Pflegekindern, von denen drei schon ausgezogen sind. Und die Initiatorin der Suppenküche von Bad Doberan. Das klingt harmlos. Suppenküchen und Tafeln gibt es landauf, landab. Die Bad Doberaner jedoch nur einmal.

 

Der Essensraum im Gemeindehaus, einem historischen Backsteingebäude gegenüber dem Münster, sieht aus wie der Gastraum eines Klosters: festlich, hoch und hell, mit spitz zulaufenden Fenstern und Parkettboden. Darin stehen zwei lange Tafeln, geschmückt mit Sommerblumen, Frauenmantel und Goldfelberich. Rund 30 Gäste haben Platz. Sie werden bedient und können zwischen zwei Gerichten wählen. Oft kommen 100 bis 120 Gäste an Werktagen, 22.000 im Jahr.

 

Eine Suppenküche aufzubauen und Theologie zu treiben, ist für Barbara Niehaus eins. In dieser Küche soll es die Starken auf der einen Seite und die Schwachen auf der anderen nicht mehr geben. In Zweifelsfällen hat sie eine Kontrollfrage parat: „Ist etwas, was wir tun oder lassen, demütigend? Dann ist es falsch!“ Deshalb wird in Bad Doberan von den Gästen kein Bedürftigkeitsnachweis, kein Nachweis über den Bezug von Hartz IV verlangt.

 

An der Eingangstür hängen keine Verhaltensregeln. Alle sind eingeladen. „Ich kann schlecht sagen: ,Meine Suppe kriegst du, meine Gesellschaft kriegst du nicht’“, findet Niehaus. Sie klingt radikal, utopisch: „Der Essensraum ist ein Raum, in dem die Menschen einander gleichgestellt sind. Wenn man von Gottes Evangelium erzählt, ist genau dies gemeint: einander gleichgestellt, bedingungslos angenommen und eingeladen. Alles, was wir tun, soll das ausdrücken.“

 

Kurz nach elf Uhr trudeln die ersten Gäste ein: Schüler einer nahe gelegenen Förderschule, Mütter mit Säuglingen und kleinen Kindern. Am Kopfende thront ein munteres Baby im Kinderstuhl, das sich von seiner Mutter füttern lässt. Handwerker im Blaumann, Ein-Euro-Jobber aus der nahen Umgebung, sitzen mit am Tisch.„Möchten Sie Nudelsalat oder Kartoffeln mit Mischgemüse?“, fragt die junge Frau, eine Ein-Euro-Kraft, die zusammen mit Hartmut, einem sprachbehinderten Mann, und Frau Bormann, einer energischen Rentnerin, die Gäste bedient.

 

Oft serviert Barbara Niehaus, die Leiterin, stundenweise mit. Sie will sich nicht nur mit Akten beschäftigen, Spender ansprechen, Anträge bei Behörden schreiben. Sie will die Besucher kennen und Anteil an ihrem Leben nehmen. Sie geht in die Hocke, schaut den schmalen Jungen, der mit gesenktem Kopf sein Essen aufgegessen hat, mit freundlichen Augen an. „Wir haben dich in den letzten Tagen schmerzlich vermisst“, sagt sie. Sein Gesicht hellt sich auf. Sie reden über ein Mecklenburg-Vorpommern-Bahnticket, von dem der Junge seit langem träumt. Er will sich ein paar Orte anschauen, im Zelt übernachten, sein großer Wunsch seit langem. Der Junge, ein Förderschüler, kommt aus einem armen Elternhaus. Er ist einer, in dessen Kindheit sich keine Wünsche erfüllt haben und der auch in Zukunft wenig Chancen haben wird – es sei denn, es änderte sich etwas.

 

Was brannte ihr so auf der Seele, dass ihr die Idee zur Suppenküche kam? „Die Armut! Die sehen Sie doch auch.“ Sie schreit es fast heraus. Als Mutter erlebte sie mit, wie Eltern ihre Kinder vom Kinderhort abmeldeten, weil sie den neuen Beitrag von 2,75 Euro pro Mittagessen nicht aufbringen konnten. Sie sah die Mutlosigkeit der Kinder und Eltern. Gesprochen wurde darüber nicht. Ihr Ton wird heftig: „Wenn ich vor Gott stehe, kann ich doch nicht so tun, als hätte ich dieses Kind, das vom Hort abgemeldet wird, nicht wahrgenommen. Das ist, was die Kirche der Gesellschaft geben kann: dass wir hingucken, und uns auch nicht abwenden, wenn es furchtbar wird. Dass wir wach sind und Defizite wahrnehmen an dem, was Gott den Menschen zugedacht hat an „Shalom“, an Wohlergehen.“

 

In Bad Doberan ist Erstaunliches passiert. Mit der ihr eigenen Direktheit wandte sich Barbara Niehaus an Pastor Albrecht Jax, als der noch neu in der Gemeinde war. Sie sprach von den Schulkindern, die ohne Essen nach Hause gingen, und fügte hinzu: „Die Gemeinde hat den Ort, den Gott ihr zugedacht hat, bislang nicht wahrgenommen. Wofür lasse ich mich im Gottesdienst stärken, wenn ich dann nicht in die Welt hinausgehe?“ Der Pastor sagte: „Ich hab auch schon daran gedacht.“

 

Vier Monate später, im Januar 2007, eröffneten sie die Suppenküche. Ein Koch und eine Restaurantfachfrau wurden später halbtags fest angestellt. Eine Artikelserie in der Ostsee-Zeitung hatte genug Spenden erbracht, um die Stellen für ein Jahr zu sichern. Zu ihnen kamen vier Ein-Euro-Kräfte und rund 20 Ehrenamtliche hinzu, unter ihnen die Leiterin. Beim Ausgang im Essensraum steht eine große Milchkanne für Spenden. Die laufenden Spenden von einzelnen und Firmen reichen für die Essenskosten – die Gehälter für die hauptamtlich Beschäftigten decken sie nicht ab.

 

Eine Frau, die unentgeldlich für Andere rackert und kämpft, lebt die nicht ganz und gar die traditionelle Frauenrolle? „Man darf bei Arbeit nicht immer nur an bezahlte Arbeit denken“, sagt Barbara Niehaus. Für sie heißt Selbstverwirklichung nichts anderes als das, was die christliche Tradition mit „zum Glauben kommen“ meint: „Wenn ein Mensch den Ort findet, den Gott ihm zugedacht hat“.

 

1993, im Umbruch der Nachwendezeit, ging die Theologin aus Baden-Württemberg nach Mecklenburg-Vorpommern. Sie und ihr Mann wollten den Aufbruch im Osten Deutschlands miterleben. Das Paar wünschte sich Kinder, eigene stellten sich nicht ein. Sie wandten sich an das örtliche Jugendamt, das ihnen nacheinander vier schwer traumatisierte Kinder zuwies, sechs, fünf, vier und zwei Jahre alt, zunächst ohne Hilfe von außen anzubieten. Eines der Kinder rief über lange Zeit jede Nacht nach ihnen, keines fügte sich problemlos ins Schulleben ein. „Nichts hat geklappt. Das Scheitern war alltäglich.“ Die Adoptiv- und Pflegemutter arbeitete hart, ohne entsprechende Bezahlung.

 

Im Muttersein unter extremen Umständen formte sich ihre Theologie. In deren Zentrum: die Chance des Neubeginns. „Das ist ur-evangelisch: Du darfst immer wieder neu anfangen“, sagt Niehaus. Zuerst ging es ihr um ihre „schwierigen“ Kinder. Ihnen immer wieder eine Chance zu geben, sie bedingungslos anzunehmen, das war ihre Mission. Dabei hatte sie aber auch sich selbst im Blick: sie lernte darauf zu vertrauen, „dass ich immer wieder neu anfangen darf und all mein Versagen bei den Kindern von Gott aufgefangen wird“. Später wollte sie einen öffentlichen Ort schaffen, an dem auch andere einen Aufbruch, einen neuen Anfang erleben können. In der Suppenküche kann sie sich nicht nur als Gründerin und Mitarbeiterin, sondern auch als Theologin verwirklichen.

 

Sie ist unbequem. Strukturen, die ihr zweifelhaft erscheinen, stellt sie in Frage, statt sie, um Energie zu sparen, zu umschiffen. Sie neigt, wie sie selbst sagt, zum Grundsätzlichen. Als sie von der Talksendung „Anne Will“ für das Rote Sofa („das Betroffenen-Sofa“) angefragt wird, verlangt sie nach dem Kurzinterview auch zur Expertenrunde eingeladen zu werden - und erreicht ihr Ziel. Einen Projektantrag beim Europäischen Sozialfond biegt sie nicht, wie allgemein üblich, so zurecht, dass er den vorgegebenen Kriterien entspricht. Sie wendet sich an die Kommission, damit diese die aus ihrer Sicht falschen Vorgaben ändert. Andernfalls verzichtet sie lieber auf das Geld.

 

Aus der Suppenküchen-Gemeinschaft heraus entstehen derzeit weitere Projekte, die das Leben in der Kirchengemeinde und in der Stadt verändern: eine Gruppenreise mit Förderschülern, von denen viele noch nie verreist waren. Eine „skills group“, in der Jugendliche, von Fachleuten unterstützt, ihre Fähigkeiten erweitern können.

 

Woher nimmt sie die Energie für ihren Einsatz? Wo findet sie einen Ausgleich? Und ist sie eigentlich glücklich dabei? Von Barbara Niehaus hört man keine der gängigen Antworten. Yoga, Joggen, Tango tanzen? Fehlanzeige. „Die Quelle ist für mich der Gottesdienst.“ Dann fallen ihr ein: die Gespräche mit Pfarrer Jax, die Supervision wegen der Kinder, die Suppenküche. „Schon mit der Eröffnung hat sich in meinem Leben etwas abgerundet,“ sagt sie. „Ich dachte: Da kann doch gar nichts Größeres mehr kommen. Jetzt bist du angekommen. Es ist eine winzige Ahnung von dem, was das Gottesreich sein könnte: dieser Raum einander gleich gestellter Menschen.“