Tschernobyl-Katastrophe "Der Schock wirkt bis heute"

An dem neuen "Sarkophag" für die Atomruine wird noch gebaut

An den 26. April 1986 erinnert sich Galina Scharanda (78) noch genau: „Es war ein wunderschöner Sonnabend im Frühling.“ Am Vormittag putzte sie die Fenster ihrer Minsker Wohnung. Was sie stutzig machte, war ein beißender Geruch, der ihr von draußen in die Nase stieg.

Erst am Nachmittag erfuhr sie durch den Anruf einer Freundin seine Ursache: Rund 400 Kilometer entfernt war der Atomreaktor im ukrainischen Tschernobyl explodiert. Neben Cäsium und Strontium war unter anderem das stark riechende Jod freigesetzt worden, hatte sich mit dem Regen über Nacht im ganzen Land verbreitet – und es radioaktiv verseucht.

Der Unfall, der durch einen Bedienfehler im Reaktor ausgelöst worden war, erschütterte vor 30 Jahren ganz Europa und wirkt bis heute nach: Nach einer Studie der Umweltorganisation Greenpeace leben noch rund fünf Millionen Menschen in der Ukraine, Weißrussland und Russland auf radioaktiv verseuchtem Boden. Kein Nachbarland der Ukraine hat unter den Folgen so stark gelitten wie Weißrussland: 70 Prozent des radioaktiven Fallouts gingen auf den Süden der damaligen Sowjetrepublik nieder.

Die Sowjetregierung vertuschte den Vorfall

Die Germanistin Scharanda arbeitet für eine staatlich unabhängige Stiftung, die sich für von der Katastrophe betroffene Kinder einsetzt. Ihr Foto will sie nicht im Internet sehen, weil sie Repressionen fürchtet. Die autoritäre Regierung baut derzeit an einem ersten Atomkraftwerk im Land. Nicht mehr die Beseitigung der Folgen der Atomkatastrophe soll im Vordergrund stehen, sondern die Region wirtschaftlich gestärkt werden, lautet die Parole. 

Seit 1991 begleitet Scharanda Gruppen aus Weißrussland zu vierwöchigen Aufenthalten nach Hamburg. Der Kontakt entstand über Andreas Zühlke, den früheren Pastor der Melanchthon-Gemeinde in Groß-Flottbek. Er und seine Mitstreiter nahmen 1990 das erste Mal Kontakt zu der Stiftung mit Sitz in Minsk auf.

Seitdem kommen alle zwei Jahre Gruppen in die Gemeinde. Scharanda war von Anfang an als Dolmetscherin dabei. Anlässlich des 30. Jahrestags des Reaktorunfalls wird sie in Bahrenfeld bei einem Feierabendmahl über die Situation in ihrem Land sprechen.

Sie habe so frühzeitig von dem Vorfall gehört, weil ihre Freundin Verwandte in der Regierung gehabt habe, erzählt Scharanda. Die breitere Öffentlichkeit erfuhr jedoch erst Tage später davon. Die Sowjetunion, zu der Weißrussland damals gehörte, habe zunächst versucht, die Katastrophe zu vertuschen. Als der Druck westlicher Regierungen stieg, habe sie die Auswirkungen heruntergespielt. So hätten nur wenige Menschen medizinische Soforthilfe erhalten. Scharanda: „Der sowjetische Präsident Gorbatschow hat ein Verbrechen am belarussischen Volk begangen.“

Viele Menschen sind an Krebs erkrankt

Die Katastrophe forderte nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation mehrere 1000 Todesopfer. Bis heute leiden Menschen vor allem aus dem Süden und Osten des Landes gesundheitlich. „Die Rate von Menschen mit Schilddrüsenkrebs ist um das 40fache gestiegen“, berichtet Scharanda. Aber auch Leukämie, Brustkrebs, Herz- Kreislauferkrankungen und Depressionen treten häufiger auf: „Der Schock wirkt noch nach. Er speist sich aus einem Gefühl der Ausweglosigkeit.“

In der hoch kontaminierten "Verbotenen Zone", einem 30 Kilometer breiten Sperrstreifen um den Unfallort, gibt es laut Greenpeace noch viele offene Quellen für die Ausbreitung der Radionuklide. Der Bau des "Neuen Sarkophags" der über die bestehende Schutzhülle der Atomruine geschoben werden soll, hat sich verzögert. Der Wind trägt belasteten Staub in entferntere Gegenden. Dort setzt er sich im Boden ab und gelangt über angebautes Getreide und Heu in die Nahrungsmittelkette. Vor allem die Milch sei stark belastet, so Scharanda. „Dadurch sind Kinder nach wie vor gesundheitlich gefährdet“, sagt Scharanda.

Dreißig Jahre nach der Katastrophe hat die Hilfsbereitschaft indes nicht nachgelassen: Im nächsten Jahr wird wieder eine Gruppe die Melanchthon- und die Luthergemeinde in Bahrenfeld besuchen. Studien zeigen, dass sich die Gesundheit der Mädchen und Jungen während des vierwöchigen Aufenthalts stabilisiert, sich die Blutwerte verbessern. „Sie freuen sich, dass sie alles essen dürfen, am liebsten frisches Obst und Gemüse“, sagt Scharanda. Und sie könnten für diese Zeit Angst und Spannungen vergessen: „Die positiven Erfahrungen wirken viele Jahre nach.“

30 Jahre Tschernobyl – Feierabendmahl an Tischen
Zeit: Dienstag, 26. April, 19 Uhr
Ort: Bürgerhaus Steenkampsaal, Steenkamp 37, 22607 Hamburg
Mit Galina Scharanda und Mascha Malikaila, einem ehemaligen „Tschernobylkind“ und dem Gospelchor Steenkampsingers