Vierzig und siebenhundert Jahre Kirche in Tonndorf

Festschrift zur 675 Jahrfeier des Stadtteils Tonndorf (1989)

PASTOREN RÜDIGER BETHKE UND ERNST OTTO HANSEN

Alte Tonndorfer nennen die Alt-Rahlstedter Kirche immer noch «unsere Kirche», und sie haben dafür gute Gründe. Denn dort wurden sie getauft, dort hatten sie Konfirmandenunterricht, dort waren die Eltern getraut worden, und vor allem: Auf dem dortigen Friedhof hat Tonndorf seine Toten begraben, seit vielen hundert Jahren, mindestens seit 1248, als das Kirchspiel Alt-Rahlstedt erstmals urkundlich erwähnt wurde. Die politischen Herrschaftshäuser wechselten, das Gotteshaus blieb für Tonndorf durch die Jahrhunderte dasselbe: Die Kirche von Alt-Rahlstedt. Erst 1927 wurde das anders.

Als Jenfeld und Tonndorf — ohne den Ortsteil Lohe — politisch zu Wandsbek kamen, wurden sie auch kirchlicherseits umgemeindet. Beide Dörfer gehörten fortan zum Bezirk der Kreuzkirche in der Kirchengemeinde Wandsbek. Von nun an wurden die Tonndorfer dort getauft, konfirmiert und getraut, und von nun an wurden die Toten auch auf dem Tonndorfer Friedhof begraben, der ursprünglich ja keineswegs der Friedhof der Tonndorfer war, sondern 1880 als Neuer Friedhof der Wandsbeker angelegt wurde.

Das Wandsbeker Zwischenspiel währte aber nur 20 Jahre. Am 5. September 1950 wurde Tonndorf — in den alten Grenzen, jedoch ohne Lohe — eine eigenständige Kirchengemeinde, bereits zwei Jahre vorher war eine eigene Pfarrstelle für Tonndorf eingerichtet worden. Erster Tonndorfer Pastor war Fritz Dorau. Er stammte aus Berlin, hatte seine theologische Prägung durch die evangelische Jugendbewegung der Schülerbibelkreise sowie durch die Bekennende Kirche erfahren, hatte in Oranienburg als Hilfsgeistlicher begonnen, war dann im Kirchenkampf von den Nazis aus dem Amt entfernt und letztlich durch den Krieg nach Hamburg verschlagen worden. 1948 wurde ihm die neue Pfarrstelle für Tonndorf angeboten. «Der Ort hatte damals nichts Verlockendes:
Armes Dorf mit vielen Notunterkünften. Die einzige Straße, die ich mit Namen kannte, war die Stein-Hardenberg-Straße. Sie sah damals trostlos aus — Müllstraße mit Ley-Häusern. Aber da mir damals nichts Besseres geboten wurde, nahm ich den Ruf nach Tonndorf an, was ich aber später auch nicht bereut habe», heißt es in seinen persönlichen Erinnerungen.

Über die Anfänge der Tonndorfer Gemeinde hat Pastor Dorau in der Fest­schrift zur 650-Jahr-Feier Tonndorfs ausführlich berichtet. Das soll hier nur in Stichworten wiederholt werden:

1.7.1948
Errichtung der Pfarrstelle für Tonndorf

5.9.1950
Urkunde über die Bildung der Tonndorfer Kirchengemeinde

1953
Bau von Pastorat und Gemeindehaus

15.11.1953
Grundsteinlegung der Kirche

3.10.1954
Einweihung der Kirche

Von Anfang an entwickelte sich in Tonndorf ein reges kirchliches Leben mit einem guten Gottesdienstbesuch und großen Kindergottesdiensten, mit riesigen Konfirmandenzahlen, zahlreichen Taufen und Trauungen, mit Jugendabenden, bei denen 50 Teilnehmer keine Seltenheit waren, mit Bibelstunden, Mütterkreisen, einem Männerkreis und, was etwas ganz Besonderes war: Wanderfahrten für die Jugend, mit Übernachtung im Zelt oder auf einem Bauernhof im Heu. Noch heute sprechen die Teilnehmer dieser Fahrten mit leuchtenden Augen von diesen unvergesslichen Erlebnissen jener frühen Jahre. Mit dem Bau von Kirche und Gemeindehaus war die Entwicklung der Tonndorfer Gemeinde aber keineswegs abgeschlossen. Durch die Errichtung zahlreicher neuer Wohnungen wuchs beständig die Zahl der Gemeindemitglieder. 1956 beantragte der Kirchenvorstand eine zweite Pfarrstelle für den Bezirk südlich der Tonndorfer Hauptstraße und östlich der heutigen Jenfelder Allee. Diese Pfarrstelle wurde im folgenden Jahr eingerichtet.

Erster Pastor in dieser Pfarrstelle war Heinrich Reinhard. Er wirkte bis 1966 in Tonndorf, ging dann nach Wilster und war schließlich von 1974 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1986 in der Nachbargemeinde Oldenfelde tätig. Heute lebt er im Ruhestand in Poppenbüttel. Auch der neue Pastor musste als «möblierter Herr» anfangen, denn ein eigenes Pastorat gab es in diesem Bezirk noch nicht. Das musste erst gebaut werden. Die Ungewissheit über die allgemeine städtebauliche Entwicklung in diesem Stadtteil machte die Planung des zweiten Gemeindezentrums besonders schwer. Erst 1961 konnte der Grundstein für Pastorat und Gemeindehaus am Roterlenweg gelegt werden. Ein Jahr später, am Sonnabend vor dem ersten Advent 1962, wurde das neue Gemeindezentrum Roterlenweg durch den Basar zum ersten Mal offiziell für Zwecke der Gemeinde benutzt, heißt es im Protokollbuch des Kirchenvorstands. Weiter heißt es: «Feierlich geweiht wurde es am III. Adventssonntag durch den neuen Propsten Dr. Hübner (den späteren Bischof von Holstein) in einem Vormittagsgottesdienst. Der Gottesdienst in der Tonndorfer Kirche fiel deswegen aus ... In dem neuen Gemeindehaus Roterlenweg wird Herr Pastor Reinhard die Kreise seines Gemeindebezirkes sammeln. Außerdem soll dort ein 2. Kindergottesdienst eingerichtet werden und auch Nebengottesdienst stattfinden. »

Eine offene Frage war und blieb, wie sich das Verhältnis beider Gemeindebezirke auf Dauer gestalten würde, ob sich der neue Bezirk zu einer eigenständigen Gemeinde weiterentwickeln würde oder ob beide Bezirke auf Dauer die Einheit der Kirchengemeinde bewahren würden. Zumindest am Beginn der Planungen war die vorherrschende Meinung im Kirchenvorstand, dass sich hier eine selbständige Gemeinde bilden solle.

Er bemühte sich darum um zusätzliches Bauland für eine neben dem Gemeindezentrum zu errichtende eigene Kirche.

Daraus wurde dann zwar nichts, — aber dass diese Tendenz fortwirkte, zeigte sich besonders deutlich in der Beibehaltung der «Nebengottesdienste», d.h. von Gottesdiensten, die für den Bezirk II im Gemeindesaal in Roterlenweg gehalten wurden, teilweise sogar zeitgleich mit den Gottesdiensten in der Kirche. Heute gibt es diese «Nebengottesdienste» nicht mehr. Vielmehr bemüht sich der Kirchenvorstand nach Kräften, alles zu stärken, was den Zusammenhalt der Gemeinde fördert, denn man ist davon überzeugt, dass nur in der größeren Einheit die Aufgaben der Kirche in Tonndorf bewältigt werden können. Umso schmerzlicher ist er sich der zerteilenden Wirkung der Bahnlinie und der großen Straßenzüge bewusst.

Mit dem Bau des zweiten Gemeindezentrums war die Entwicklung aber immer noch nicht abgeschlossen. Das zeigt der Schluss der bereits erwähnten Notiz im Protokollbuch. Der Kirchenvorstand hatte nämlich eine dritte Pfarrstelle beantragt, und nun heißt es: «Seit dem 1. November ist Herr Pastor Czycholl als Hilfsprediger unserer Gemeinde zugeteilt worden. Er soll in erster Linie den westlichen Teil von Hohenhorst betreuen.» — Zum anderen heißt es in einem Beschluss vom 22. Januar 1962: «Der Kirchenvorstand beschließt einstimmig, auf einem noch zu erwerbenden Grundstück hinter dem Gemeindezentrum ein Kindertagesheim zu errichten.» Die dritte Pfarrstelle erwies sich in der Folgezeit als überflüssig, sie wurde nie richtig besetzt und 1975 wieder aufgehoben. Das Kindertagesheim dagegen wurde verwirklicht. 1968 wurde mit dem Bau begonnen, am 21.6.1969 wurde es feierlich eröffnet. In diesem Jahr wird das 20-jährige Bestehen gefeiert.

Zwei Jahre vorher hatte es im Bezirk II einen Pastorenwechsel gegeben. Nachfolger von Pastor Reinhardt war Pastor Eiselen geworden. Er war aus Bochum gekommen und wirkte in Tonndorf bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1984. Heute lebt er in Bargteheide im Ruhestand. Nach der Vollendung des Kindertagesheimes kehrte endgültig der Alltag im Leben der Gemeinde ein. Die Grenzen nach außen waren abgesteckt, im Inneren waren die Strukturen geschaffen, die nun mit Leben erfüllt werden mussten. An dieser Stelle soll dankbar all derer gedacht werden, die daran aktiv mitgewirkt haben, als Gemeindehelferinnen, als Kirchenmusiker, als Küster oder Hausmeister, als Gemeindeschwestern, als Erzieherinnen oder Kinderpflegerinnen, als Raumpfleger ~innen, als Zivis, in der Verwaltung, im Kirchenvorstand oder als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie alle haben die Geschichte der Gemeinde mitgeprägt.

Die Höhepunkte im Gemeindeleben ergaben sich teils aus dem Kirchenjahr: Weihnachten, Karfreitag, Ostern, die Konfirmationen, Erntedank, teilweise wurden sie bewußt geschaffen: Gemeindefeste, Basare, Ausflüge, Konzerte und nach wie vor die großen Fahrten, die von der Kirchengemeinde organisiert wurden.

Zwei Ereignisse aus den Siebziger-Jahren müssen aber doch besonders erwähnt werden: Der Bau einer neuen Orgel und Pastor Doraus Pensionierung.

Die neue Orgel wurde 1977 geplant und bei der Fa. A. Führer in Wilhelmshaven in Auftrag gegeben. Viele Gemeindeglieder beteiligten sich durch Spenden an der Finanzierung dieses schönen Werkes. Die Orgel hat zwei Manuale mit Pedalwerk und verfügt über 18 Register. Am 2. Advent 1978 wurde sie feierlich geweiht und erklangen ihre Stimmen erstmals im Gottesdienst zum Lobe des Herrn und zur Erbauung der Gemeinde.

Am 1. August 1979 ging Pastor Dorau nach über 31-jährigem Wirken in Tonndorf in den Ruhestand. Er lebte anschließend zunächst in Tonndorf und später ganz in der Nähe und nahm innerlich weiter regen Anteil an allem, was in unserer Gemeinde geschah. Leider erkrankte er bald sehr schwer und starb 1988 im Alter von 76 Jahren. In der Nähe der Kapelle, auf dem Tonndorfer Friedhof, fand er seine letzte Ruhestätte.

Sein Nachfolger wurde Pastor George Plaschke. Ursprünglich aus Hamburg stammend, hatte er zunächst in Detmold ein Pfarramt innegehabt und sich dann um die Pfarrstelle in Tonndorf beworben. Leider kam er nach Tonndorf in einer Zeit, als sich der Kirchenvorstand auf eine schwere innere Krise zubewegte, die 1983/84 ihren Höhepunkt erreichte.

Pastor Plaschke wechselte 1983 die Pfarrstelle und ist heute Pastor in Karby an der Schlei. Pastor Eiselen ging mit Erreichen der Altersgrenze Anfang 1984 in den Ruhestand. Die Amtszeit des Kirchenvorstands endete turnusgemäß Ende 1984.

Nach der Kirchenwahl ‘84 konnte ein zwischenzeitlich mit der Wahrnehmung der Rechte und Pflichten des Kirchenvorstands beauftragter Ausschuss, in dem Pastor v. Oppen als Vakanzvertreter den Vorsitz hatte, seine Arbeit einstellen und die Amtsgeschäfte dem neuen Kirchenvorstand übertragen. 1985 wurden beide Pfarrstellen mit den Pastoren Rüdiger Bethke im Bezirk II und Ernst Otto Hansen im Bezirk I neu besetzt. Beide Pastoren und der neue Kirchenvorstand haben schnell das Vertrauen der Gemeinde gefunden.

Obwohl die Zahl der Gemeindeglieder heute auf unter 4500 gesunken ist und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 52 % beträgt, ist die Gemeinde nicht nur evangelische Kirche im Stadtteil sondern auch Kirche für den Stadtteil, letzteres insbesondere durch das Kindertagesheim mit seinen 60 Plätzen sowie die beiden Kinderstuben, die Gemeindeschwester im Verband mit der Sozialstation Jenfeld­Tonndorf, sowie dem Mobilen Sozialen Hilfsdienst, in dem fünf Zivildienstleistende eingesetzt werden.

Unsere kleine Kirche am Sonnenweg ist nicht so imposant wie der Hamburger Michel. Dennoch ist sie mit ihren leuchtend weißen Mauern, den anthrazitgrauen Dachziegeln und dem zierlichen Dachreiter ein unverkennbares Wahrzeichen unseres Stadtteils. Inmitten dichter Verkehrsströme auf Schiene und Straße ist sie ein Ort der Stille und des Friedens.