Sommerreihe – letzter Teil Die Könige vor den Toren der Stadt

Ausschnitt aus dem Haselauer Deckengemälde

Zu den Rändern soll die Reise gehen. Also fahre ich erst einmal nach Wedel. Die S-Bahn endet hier, aber zu den „Rändern“ ist es noch weit. Die Buslinie 489 Richtung Elmshorn nimmt mein Fahrrad und mich mit. Die Fahrt führt durch Wiesen und Wald. Rechter Hand der Uetersener Flugplatz – das Tower-Restaurant lockt, aber auch die Flüge nach Helgoland und zu den Nordfriesischen Inseln.

Im Ort Heist steige ich an der Schule aus, jetzt muss ich per Fahrrad weiter. Kurz hinter dem Ort geht es spürbar begab. Hier beginnt die Haseldorfer Marsch. 1976 soll hier alles unter Wasser gestanden haben. Der Deiche war in der Januarflut gebrochen und das Wasser füllte die Marsch, als wäre sie eine große Schüssel, erzählen die Leute hier.

Vorne rechts sehe ich schon mein erstes Ziel. Über alle Bäume hinweg grüßt der hohe Kirchturm der Hl. Dreikönigskirche von Haselau. Seit ziemlich genau 150 Jahren ist er weit durch die Marsch zu sehen, in seinen ersten Jahren diente er auch als Orientierungszeichen für die Schiffer auf der nahen Elbe.

Wie man es sich vorstellt?

An der Kirche erwartet mich Andreas Petersen, der Pastor der Kirchengemeinde. Hier scheint alles noch so zu sein, wie man sich das für ein Dorf vorstellt: In der Mitte die Kirche, drum herum der Kirchhof und gleich nebenan die Gastwirtschaft. Der Pastor lacht: „Naja, die Zeit ist hier auch vorangegangen. Kein Bäcker, kein Tante-Emma-Laden – und wer Arbeit sucht, findet sie meist im nahen Hamburg.“

Wer dagegen Ruhe sucht, findet eher hier ein bisschen. Rund um das Kirchgebäude aus dem 14. Jahrhundert liegen die Grabstelle, außen führt ein Rundweg durch die fast parkähnliche Anlage. In der Ferne ist der Deich der Pinnau zu sehen, der die Haseldorfer Marsch im Norden begrenzt.

Auf einer Bank im Sonnenschein vor der Kirche kommt wir ins Erzählen. Neben uns sitzt eine große Holzstatue. „Diese Bank haben wir vor ein paar Wochen hier aufgestellt, ein Kettensägenschnitzer aus dem Dorf hat sie für unser Reformationsjahr hergestellt. Man kann hier wunderbar sitzen und sich mit Martin Luther unterhalten.“

Nach einer Weile verlassen wir die Lutherbank und begeben uns in die Kirche. Der Innenraum wird vor allem geprägt durch die Komposition von Altar und Deckengemälde. Die warmen Farben wirken angenehm. Christian Precht hat den Altar geschnitzt. Er war ein Zeitgenosse des berühmten Orgelbauers Arp Schittger, mit dem er auch einige Orgeln erstellt hat, zum Beispiel Teile der Orgel der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi. 

24 stolze Könige im Kirchenraum

Beeindruckend ist auch das Deckengemälde. Es zeigt 24 Könige rund um den Thron Gottes. Sie spielen ihre Harfen, singen und applaudieren den Lamm (Symbol für Jesus Christus), das das Buch mit den sieben Siegeln aufgeschlagen hat.

„Das ist ein schönes protestantisches Bild“, erklärt Andreas Petersen. „Schauen Sie mal auf die Jahreszahl: 1685. Da wurden die Kirchenmusiker Bach und Händel geboren. Das war aber auch das Jahr, in dem Ludwig XIV den Hugenotten in Frankreich sämtliche Rechte genommen hat. Die Könige hier bei uns sind genau so gekleidet wie dieser französische Sonnenkönig. Was für mich heißt: Ihr irdischen Mächtigen, Eure Aufgabe ist alleine, auf Gott zu verweisen, nicht auf Euch selbst.“

Viele verschiedene Baustile haben diese Kirche geprägt. „Jede Generation hat die Kirche wieder schöner machen wollen. Dadurch atmet sie Leben und die Liebe der Menschen hier,“ meint der Geistliche. Auch dieses Jahrhundert hat seine Spuren hinterlassen. Der Orgelbauer Christian Lobback baute für die Haselauer Kirche 2002 eine seiner schönsten Orgeln.

Offene Türen in der Not

Wir verlassen die Kirche und stehen wieder in der Sonne. Zur Straße geht es bergab. „Das ist kein Wunder, die Kirche steht auf einer Wurt. Wenn die Deiche brechen, kommen die Wellen hier nicht her.“ Darum werden bei jedem Deichbruch die Türen der Kirche geöffnet – früher für Menschen und Tiere, 1976 „nur“ für die Soldaten, die den Bewohnern der Marsch unter die Arme gegriffen haben.

Nebenan steht das Haselauer Landhaus. Es ist Mittagszeit – viel Betrieb für eine Dorfgaststätte. Offensichtlich kann man hier gut essen. „Man muss schon zeitig einen Tisch bestellen, sonst muss man draußen bleiben.“ Wir bleiben mit unserer Tasse Kaffee draußen unter dem Sonnenschirm bei den Radreisenden, die hier ihre Pause einlegen.

Weiter geht’s – ab hier begleitet mich Andreas Petersen ein Stück. Zunächst weiter nach Norden. Nach etwa zwei Kilometern erreichen wir die historische Drehbrücke. Sie ist mehr als 125 Jahre alt und wird heute immer noch genutzt. Ein Segler will die Pinnau herunter, und wir beobachten, wie ein Stück der Brücke sich langsam öffnet. Autos, Fahrräder und Fußgänger müssen warten. „Wenn wir wirklich an den Rand unseres Kirchenkreises wollten, müssten wir jetzt über die Brücke nach Seester fahren, das liegt noch weiter westlich, erklärt der Pastor“

Weite Blicke über Land und Wasser

Machen wir aber nicht, sondern fahren in den Stadtkoppelweg hinein. Immer am Deich entlang führt uns die Straße. Schafe grüßen vom Deich herunter, und bald auch wieder Menschen aus ihren Gärten. Rechts geht es in den Kreuzdeich. Strohgedeckte Katen drücken sich an den Deich. „Das ist die Kalenderstraße in unserem Dorf“, sagt Pastor Petersen.

Am Ende des Kreuzdeichs heißt es absteigen. Wir lassen die Räder unten am Weg und steigen den Deich hinauf. Der ist deutlich höher als die Deiche, an denen wir gerade entlanggefahren waren. „Kein Wunder, das waren Sommerdeiche, dies ist der richtige“. Oben angekommen öffnet sich ein weiter Blick über die Elbe. Im Vordergrund grüne Inseln, dahinter die Fahrrinne, durch die langsam die Container elbabwärts treiben. Im Hintergrund das Industriegebiet von Stade.

Genau hier vor uns lag einmal ein Dorf. Bishorst hieß es, die Muttergemeinde für alle Dörfer hinter dem Deich. Heute sieht man nichts mehr davon, das Dorf ist in den Fluten der Elbe untergegangen. In manchen Häusern der Marsch sollen sich bis heute Steine dieses Dorfes erhalten haben.

Wir sitzen wieder auf und fahren weiter am Deich entlang. Links von uns liegen weite Obstplantagen. „Wir haben nur noch zwei „echte“ Landwirte bei uns. Dafür hat die Zahl an Obstbauern zugenommen.“ Die kleineren Obstbauern liefern ihre Ware persönlich bei den Kunden ab, die großen handeln über die Genossenschaft Elbe Obst mit der ganzen Welt.

Wir fahren am Haselauer Ortsteil Hohenhorst vorbei. Gleich drei Cafés locken mit selbstgebackenem Kuchen, aber uns zieht es nur wenig weiter zum Haseldorfer Hafen. Die Fischbrötchen am Kiosk von Peter Bock sind berühmt in der Haseldorfer Marsch und am Wochenende ein beliebter Anlaufpunkt für Radfahrer und Biker. „Das Gebiet erobern wir Haselauer uns immer am dritten Sonntag im September,“ meint Pastor Petersen, „seit 20 Jahren feiern wir hier unseren Motorradgottesdienst.“

Nach dem Fischbrötchen trennen sich unsere Wege. Der Pastor fährt zurück in seine Gemeinde. In nahen Haseldorf könnte ich das Schloss und die alte Schlosskirche besuchen. Oder ich könnte mich im Elbmarschenhaus informieren über Elbe und  Naturschutz. Aber der Tag war lang genug – nächstes Mal.

So fahre ich am Deich entlang zurück nach Wedel mitten durch das große Naturschutzgebiet von Haseldorfer Marsch und Wedeler Au. Hinter den großen Strommasten, die die Elbe überqueren, komme ich nach Fährmannssand. Die Sonne scheint noch, ich setze mich auf die Terrasse und genieße ein paar leckere Bratkartoffeln. So schaffe ich dann auch das letzte Stück des Wegs zurück zum Wedeler Bahnhof.