03.12.2025
Gegen die Einsamkeit

Advent: Eine Zeit der Deutung

Advent: Eine Zeit der Deutung

Zwischen Licht und Dunkel

Der Advent bringt vieles zugleich in den Blick: Licht und Dunkel, Nähe und Einsamkeit, Erwartung und Unsicherheit. In diesem Spannungsfeld zeigt sich, wie sehr Menschen auf Resonanz und Deutung angewiesen sind.

Vielschichtige Anfänge

Im Dezember beginnt eine Phase verdichteter Erwartung: Mit dem Advent treten Lichter, Rituale und wiederkehrende Gesten in den Vordergrund. Sie wirken wie Versprechen: eindrucksvoll in ihren Bildern, unsicher in ihrer Einlösung. Um sie herum legen sich Ansprüche, Erfahrungen und Hoffnungen – lose miteinander verbunden, bisweilen widersprüchlich. Für viele ist die Zeit von echter Freude getragen, von dem Gefühl, dass sich Dinge für einen Moment nicht auseinanderbewegen, sondern zusammenfinden. Für andere aber bleibt gerade diese Zeit ambivalent: Vertrautheit und Überforderung liegen nah beieinander, Erwartungen erfüllen sich teilweise, verfehlen sich aber ebenso oft. Der Advent bündelt mancherlei Stimmungen – ohne sie dabei immer zu ordnen. Advent ist vieles zugleich,- die Nähe der Wärme und die Erfahrung, dass auch inmitten von Gemeinschaft ein Gefühl von Einsamkeit auftauchen kann. 

Einsamkeit im Licht des Advents

Die vergangenen Jahre haben sichtbar gemacht, wie präsent das Motiv der Vereinzelung – und die mit ihr verbundene Einsamkeit – geworden ist; vielleicht, weil sie zunimmt, vielleicht, weil wir sie als gesellschaftliche Realität ernster nehmen. Fest steht: In vielen westlichen Gesellschaften wächst ein Zustand, der sich trotz permanenter Vernetzung durchzieht: ein Mangel an Bindung, an echtem Gegenüber. 

Einsamkeit geht häufig mit Scham einher. Scham entsteht dort, wo Einsamkeit als etwas gilt, das man erklären, rechtfertigen oder verbergen müsste. Zugleich bringt Einsamkeit selbst eine Art Sprachlosigkeit hervor – dort, wo das Innere keinen Anschluss findet. Und sie zeigt sich in dem Moment, in dem Gegenwart nicht als Beziehung, sondern als bloßes Mitlaufen empfunden wird.

All das legt offen, wie instabil die eigene Orientierung werden kann. Dennoch zeigt sich gerade im Advent, dass das unmittelbar Gegebene nicht abschließend ist – und eine andere Form der Deutung sichtbar wird.

Vom Advent zum Mythos

Der Advent arbeitet mit Bildern und Gesten, die mehr sind als bloße Dekoration. Sie eröffnen zwar keine andere Welt, aber sie verschieben die Perspektive auf diese. Sie weisen darauf hin, dass die Wirklichkeit mehr umfasst als ihre sichtbare Oberfläche. Diese Verschiebung führt zu einer Denkfigur, die nicht mit Fakten, sondern mit Bedeutungen arbeitet: dem Mythos.

Mythen gelten heute oft als Reste einer irrationalen Vergangenheit – als etwas Archaisches, das man längst überwunden haben müsste. Doch in ihrem Kern sind sie etwas anderes: symbolhafte Erzählkerne, die Erfahrungen verdichten, für die die begriffliche Sprache allein nicht ausreicht. 

In dieser Funktion sind sie mehr als bloße alte Geschichten. Mythen sind Formen der Welterschließung, die tiefer greifen als rationale Beschreibungen. Sie ordnen, was sonst diffus bleibt: Angst, Hoffnung, Verletzlichkeit, und jene Momente von Sinn, die sich nicht einfach auf eine Formel bringen lassen. Sie machen erfahrbar, was sich dem rein Beschreibenden entzieht, indem er Wirklichkeit nicht abbildet, sondern deutet. 

Damit erfüllt der Mythos eine Funktion, die in der ‚Moderne‘ leicht unterschätzt wird. Er schafft Bilder, an denen Orientierung entstehen kann; er fasst zusammen, ohne zu verengen. Der Mythos reduziert die Welt nicht, sondern macht sie bewohnbar. Denn der Mensch deutet, lange bevor er erklärt. Und wo solche Deutungsformen fehlen, bleibt die Welt zwar beschreibbar, aber innerlich doch leer. Ohne Mythos ist die Wirklichkeit vielleicht nachvollziehbar – doch sie verliert ihre Tiefe – und mit ihr die Möglichkeit, sich selbst in einem größeren Zusammenhang zu verorten.

Eine Ankunft – und mehr als das

In diesem Verständnis rückt auch der Advent in eine andere Kontur. Die Adventszeit ist traditionell eine Zeit des Erwartens. Die Erinnerung an eine Ankunft und die Ahnung einer weiteren, die noch aussteht. Diese Zeit folgt keiner ‚rationalen‘ Beschreibung der Welt, sondern einer Form des Zugangs, die nicht auf Erklärung, sondern auf Bedeutung zielt.

Im Zentrum dieses Erwartens steht ein Gegenüber: „Gott wird Mensch“. Dieser Glaubenssatz verdichtet eine grundlegende Welterschließung, in der zum Ausdruck kommt, dass Gott nicht auf Distanz bleibt, sondern in menschlicher Nähe geglaubt wird.

Ein Gott, der nicht auf Distanz bleibt

„Wende dich zu mir, denn ich bin einsam und bedrückt“ (Psalm 25, 16) 

Dieser Vers aus den Psalmen macht greifbar, wie grundlegend das Bedürfnis nach einem Antwortenden ist. Die Adventszeit führt diese Erfahrung vor Augen und lenkt den Blick darauf, dass der Mensch nicht vollständig in sich selbst aufgeht – und auch nicht soll. Was wir Einsamkeit nennen, ist kein persönlicher Fehlstand, sondern Ausdruck menschlicher Verwundbarkeit – und des Bedürfnisses nach Beziehung. 

Der Advent setzt diese Möglichkeit voraus und hält sie zugleich offen: Es gibt ein Gegenüber. Es gibt Resonanz. Es gibt ein Licht, das nicht vorgibt, alles zu erhellen, aber genug ist, um weiterzugehen.

Denn Gott geht dorthin, wo menschliche Blicke ausweichen: in das Unbeachtete, das Brüchige, das Tiefe. Gerade dort setzt die Erzählung der Menschwerdung an. Damit kehrt der Gedanke zurück: Advent ist die Erinnerung an eine erste Ankunft – und der mutige Vorgriff auf eine zweite, die noch erwartet wird.

theologisch betrachtet

Theologische Referentin Lale Raun

Lale Stella Raun ist Diplom-Theologin und Kommunikationsreferentin für Kirche Hamburg. In “theologisch betrachtet” schreibt sie über Phänomene aus Alltag, Religion und Kultur, die sie aus spirituell-akademischer Perspektive deutet.

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