02.10.2025
"Grindel singt"

Wie das Singen die Menschen im Viertel zusammenbringt

Kirchenmusikerin Jasmin Zaboli im Grindelviertel

Gemeinsam Singen im Grindelviertel

Mit „Grindel singt“ hat die Gemeinde St. Andreas am Grindel ein niedrigschwelliges Format ins Leben gerufen, das bereits seit bald drei Jahren besteht. Hunderte Menschen kommen regelmäßig, um gemeinsam mit Fremden zu singen. Warum?

Viele erinnern sich auch nach mehr als fünf Jahren an die Zeit, als eine Pandemie die Welt zum Stillstand zwang: Selbstverständlichkeiten wie der regelmäßige Gang zum Vereinssport, das Treffen mit Freund*innen im Restaurant um die Ecke, der Kinobesuch oder auch die Teilnahme an Chor- und Tanzgruppen, blieben uns allen verwehrt. 

Als sich Ende 2022 Weihnachten und die traditionelle Weihnachtsfeier der Mitarbeitenden der Flüchtlingshilfe Harvestehude näherte, kam man auf die Idee, diese Feier aufgrund der Corona-Auflagen nach draußen zu legen. „Und wir dachten uns: Die Nachbarschaft laden wir gleich noch mit ein“, erinnert sich Jasmin Zaboli, Kirchenmusikerin der Ev.-Luth. Gemeinde St. Andreas in Hamburg.

Unterschiedliche Menschen kommen hier zusammen

Die Kirche St. Andreas in Hamburg

Nach Jahren der Unsicherheiten und Entsagungen, kamen dieser Einladung mehr als 150 Menschen aus dem gesamten Stadtteil nach. Sie alle trafen sich am Brunnen der Rappstraße 2, mitten im Grindelviertel, und sangen gemeinsam. Der Treffpunkt war nicht zufällig gewählt, die Kirchengemeinde hatte die Patenschaft des Brunnens übernommen, nachdem ein privater Spender weggefallen war. „Die Gemeinde wollte den Platz neu beleben, die Idee, das gemeinsame Singen dort zu veranstalten, kam von der Flüchtlingshilfe.“

Die Flüchtlingshilfe Harvestehude e.V. engagiert sich seit 2014 für geflüchtete und migrantische Menschen, die in Hamburg ankommen. Jasmin Zaboli ist fast genauso lange mit dem Verein verbunden, man feiert regelmäßig gemeinsame Feste – oder trifft sich zum Nachbarschaftssingen. Nicht nur deswegen kommen zu „Grindel singt“ Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen zusammen, erklärt Zaboli. 

„Ich finde den Blick auf kulturelle Unterschiede nicht sinnvoll. Man muss sich doch nur im eigenen sozialen Umfeld umschauen: Allein in Freundschaften oder in Beziehungen kommen wir oft aus ganz unterschiedlichen Welten, egal ob wir dieselbe Muttersprache haben oder nicht. Das fällt genauso ins Gewicht wie kulturelle oder nationale Unterschiede. In all diesen Fällen ist das Singen eine Brücke.“

Lieder sind ein Politikum

Ein Gesangbuch

In einer Zeit, in der Kirche mit Mitgliederschwund hadert, in der die Menschen Hamburgs und ganz Deutschlands sich zunehmend isoliert fühlen, wie gelingt es der Kirchenmusikerin, hunderte Personen regelmäßig am Brunnen im Grindelviertel zu versammeln? „Zum einen über die Songauswahl. Regelmäßig dabei ist ein Opener, meist passend zur Jahreszeit. Dann ein Kinderlied, traditionelle Volkslieder, ein Fernsehsong oder ein Disney-Lied, Kultsongs, Evergreens und natürlich immer ein Gospel- bzw. Kirchenlied.“ Darf man eigene Vorschläge machen? Natürlich, antwortet Zaboli. Allerdings: „Grundsätzlich singen wir nur Lieder, die ich auch selbst mag. Und ja, ich habe auch schon Wünsche nicht erfüllt. ‚Aramsamsam‘ gibt es bei mir nicht“, sagt sie und lacht.

Wünsche erreichen sie auf unterschiedliche Weise, mal per Mail, über Instagram oder nebenbei in der Eisdiele, wenn man gemeinsam in der Schlange steht. Die persönliche Präferenz sei wichtig, erklärt die Musikerin, schließlich müsse sie die Lieder authentisch mit Begeisterung selbst singen und am Klavier begleiten. Manchmal sind Songs jedoch aus anderen Gründen unpassend. „Ich recherchiere zu den Liedern, die sich die Leute wünschen. Beispielsweise wurde ‚Kein schöner Land‘ teilweise bei Nazikundgebungen gesungen. Da sage ich klar nein.“ 

Gemeinsames Singen fördert das soziale Verhalten bei Kindern, insbesondere das Chorsingen wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der Menschen aus und fördert auch den Aufbau sozialer Beziehungen – unabhängig von Alter und Herkunft. Und: Singen ist ein Politikum, insbesondere gemeinsames Singen. „Nicht umsonst ist es teilweise in anderen Ländern außerhalb vom familiären oder religiösen Kontext verboten.“ Auch in Deutschland ist nach dem zweiten Weltkrieg bis heute das gemeinsame Singen von Volksliedern ein Drahtseilakt. „Man muss sehr genau hinschauen, was man singt, gleichzeitig möchte ich das gemeinsame Singen etablieren und aufrechterhalten.“ 

Lieder und ihre Emotionen

„Grindel singt“ bietet einen Ort der Begegnung für die Menschen – unabhängig ihrer Herkunft oder ob sie Teil der Ev.-Luth. Kirche in Hamburg sind oder nicht. Jeder Mensch wird persönlich begrüßt und bekommt einen Handzettel mit den Liedern des Tages. „Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Moment. Man wird wahrgenommen und hört: ‚Schön, dass du hier bist.‘ Es ist auch wunderbar niedrigschwellig, die Leute kommen und gehen, wie es ihnen passt. Und es findet in ihrem Viertel statt, wo sie sich sicher fühlen.“ 

Regelmäßig erlebt Zaboli besondere Momente beim Nachbarschaftssingen: „Menschen, die sich umarmen oder sich ein Taschentuch reichen bei bestimmten Liedern. Die Kinder fangen regelmäßig an zu tanzen, das ist einfach süß.“ Oft kämen Menschen auf sie zu, die Nahestehende verloren haben und die sich über die Lieblingslieder der verstorbenen Person freuen. Oder über Songs, die sie gehört haben, als sie zum ersten Mal verliebt waren.

Gemeinschaft im Rücken

Kirchenmusikerin Jasmin Zaboli auf einer Straße im Grindelviertel

„Das gemeinsame Singen gibt es heutzutage kaum noch. Deswegen freue ich mich sehr, dass es so großartig läuft und insbesondere über die Unterstützung meines ganzen Teams. Hinter diesem Projekt steckt so viel Herzblut, das man gar nicht sieht. ‚Grindel singt‘ ist eine wunderbare Möglichkeit, Musik, Gemeinschaft und Kultur zu ermöglichen im öffentlichen Raum.“ 

Dabei war die Straße für die Kirchenmusikerin eigentlich keine Komfortzone, ihre Ausbildung wappnete sie für die Orgel, die Chorproben, die Kirchenräume. Beim ersten Mal im Jahr 2022, als sie mit ihrem Klavier auf diesem weiten Platz stand, kostete sie das Überwindung. Doch sie hatte ihre Gemeinschaft im Rücken: „Ich wusste, der harte Kern der Flüchtlingshilfe und der Kirchengemeinde kommt. Ich wusste, ich kann auf sie zählen.“

Jeden ersten Freitag im Monat trifft sich “Grindel singt” zum gemeinsamen Singen am Brunnen. Die aktuellen Termine finden Sie auf der Webseite der Kirchengemeinde.

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