06.11.2025
Sterben und Trost

Einsam, aber nicht vergessen: Wie Hamburgs stille Bestattungen Trost stiften

Sabine Erler vor einer Installation auf dem Friedhof Öjendorf

Bestattungen von Amts wegen in Hamburg

In Hamburg finden immer mehr Menschen ohne Angehörige ihre letzte Ruhe – „von Amts wegen“, ist der Fachjargon dafür. Ein Text über stille Abschiede, ungehörte Geschichten und den Trost, den Gemeinschaft auch im Tod spenden kann.

Es ist ein schöner Tag, um über den Tod zu sprechen: Der Herbst hat die Hansestadt eingenommen, die Blätter golden gefärbt und das Licht strahlt im weichen Glanz hinab auf den großen Findling am Wegesrand des Öjendorfer Friedhofs. Um den Stein liegen Blumen, Grablichter, Heidekraut und dekorative Gegenstände – ein Grabmal, mit der einfachen Gravur „GROSSMUTTER“. 

Die Gravuren sollen an das Beziehungsgeflecht erinnern, in dem die Verstorbenen gelebt haben: Sie waren Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Töchter, Söhne, Freund*innen – und Großeltern. Hier, am Weg des Gedenkens und Besinnens, treffe ich mich mit Pastorin i.R. Sabine Erler, um über das Sterben zu sprechen. 
 

Ein Trauerort für alle

Ein Grabstein mit der Gravur "Freund" im Friedhof Öjendorf

Die meisten Findlinge am sogenannten Weg „Fremde Nähe“ sind regelmäßig bestückt mit Blumen und Kerzen, Engelsfiguren und anderen persönlichen Gegenständen. „Hier kommen auch Menschen her, die Verstorbene an anderen Orten haben. Am Geburtstag des Bruders fahre ich vielleicht nicht nach München, aber ich kann hierherkommen.“

Manchmal führen auch andere Gründe die Leute an diesen Ort. Denn nicht immer sind die Angehörigen der Verstorbenen auch vorm Gesetz bestattungspflichtig – das sind in der Regel Ehepartner*innen, Kinder, Geschwister oder Eltern. Erler erinnert den Fall von einem Verstorben, der mit seinem Vater tief zerstritten war. Trotzdem war dieser der bestattungspflichtige Angehörige – nicht die Freundin des Verstorbenen – und so hat er auch bestimmt, wo der Sohn beerdigt wird. „Die Freundin war mit dem Verstorbenen elf Jahre zusammen, aber das bedeutete leider nichts.“
 

Warum die Kirche Bestattungen von Amts wegen begleitet

Ein bestattungspflichtiger Angehöriger ist schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr in einer Gesellschaft, die mehr und mehr vereinsamt. „Das Leben wird kälter“, erklärt die ehemalige Pastorin. „Die Beziehungen in den Familien tragen oft nicht mehr, man verliert sich aus den Augen.“ Einsamkeit sei grundsätzlich ein großes Thema. 

Wer stirbt und keine bestattungspflichtigen Angehörigen hat, wird auf Kosten der Stadt beerdigt. Lange Zeit ein sehr einsamer Termin, bei dem immer mehr Urnen am Öjendorfer Friedhof ankamen. Da gingen die Mitarbeitenden auf Jürgen Propst zu, damals Seelsorger in einem Heim für alkoholkranke Menschen. Viele von ihnen landeten selbst bei diesen Bestattungen. Der Seelsorger wusste also um die Problematik. 

„Jürgen trommelte Menschen zusammen, unter anderem mich, damit wir zumindest eine kleine Begleitung für die dutzenden von Menschen anbieten konnten, die von Amts wegen hier bestattet werden.“ 2012 fing es mit ungefähr zwanzig Urnen alle zwei Wochen an. „Heute sind wir teilweise bei wöchentlichen Terminen, jeweils mit dreißig Urnen, mehrmals waren es auch schon sechzig auf einmal.“
 

Die vielen Gesichter der stillen Bestattung

Die Namenspaletten verstorbener Hinz und Kunzt Mitarbeitender

Wer sind diese Menschen, die von Amts wegen hier beerdigt werden? Man könnte an einsame, alte Menschen denken oder an Obdachlose – das würde zumindest einem verbreiteten Bild der Gesellschaft entsprechen. „Das sind alles Vorurteile“, sagt Sabine Erler mit klarer Stimme. „Ich erinnere mich, dass wir 2019 zum ersten Mal über tausend Bestattungen von Amts wegen hatten. Davon waren siebzehn Obdachlose, Mitarbeitende von ‚Hinz & Kunzt‘. Bis heute sind obdachlose Menschen nur ein kleiner Prozentsatz.“

Es sind Menschen, die in Deutschland Arbeit und Glück suchten und „unter die Räder dieser Gesellschaft gerieten“. Und natürlich sehr viele hochbetagte Menschen, „von denen wir nicht wissen, ob sie einsam waren. Vielleicht waren sie in ihrem Heim eingebunden, vielleicht im Heimbeirat, hatten enge Kontakte zu den Pflegenden.“ Doch all diese Menschen, mit denen sie ihre letzten zwanzig Lebensjahre verbracht haben, sind nicht bestattungspflichtig. „Also landen sie hier“, sagt die ehemalige Pastorin und zeigt auf eines der vier Grabfelder.
 

Die Bestattungsform der Zukunft?

Granitstelen mit Namens- und Datentafeln auf dem Friedhof Öjendorf

Auf dem Feld stehen mehrere rechteckige Granitstelen mit Namens- und Datentafeln. Die Platten listen, Zeile für Zeile, die Namen der Verstorbenen und ihre Lebensdaten auf. Auf manchen Tafeln haben sich über die Jahre Moos und Flechten angesetzt. Auf anderen Feldern finden sich ähnliche Platten, auf manchen stehen Kerzen oder Engelsfiguren. Jeder Name ist ein gelebtes Leben, eine Geschichte, die an diesem Ort, auf dieser Welt, ihr Ende fand.

In den Augen von Sabine Erler wird diese Bestattungsform immer mehr, weil „viele Menschen im Angesicht des Todes überhaupt nicht wissen, was sie wollen oder was ihnen eigentlich guttun würde.“ Dagegen gäbe es immer wieder Familien und Freundeskreise, die genaue Vorstellungen davon hätten, was die verstorbene Person sich gewünscht hat – vom Ablauf hin bis zur Musik. „Keine Orgel, lieber ACDC“, erinnert sie sich an ein Gespräch. Und dann das absolute Gegenteil: Hilflosigkeit, Überforderung. „Die haben nie über Tod und Bestattung gesprochen, das ist leider nach wie vor ein Tabu.“ Und auch dann wird eine Bestattung von Amts wegen notwendig – wenn sich die Angehörigen nicht um die Beerdigung kümmern (können).

„Jeder Mensch hat eine ureigene Beziehung zum Verstorbenen“

In ihrem Beruf hat Sabine Erler viele Trauergespräche geführt. In solchen seien die Menschen ehrlich, roh und rau. „Die Tragik kommt ganz automatisch nach oben, selbst durch einen Satz wie: ‚Das wissen wir alles gar nicht, der hat immer nur gearbeitet.‘ Das wirft ein Licht auf ein Leben, die Brüche werden deutlich.“

Vor vielen Jahren beerdigte sie einen jungen Mann, das Gespräch mit den Eltern und der Schwester sei schwierig gewesen, die Hinterbliebenen wirkten sehr verschlossen. Erst bei der Beerdigung wurde ihr klar, warum: Als in der dritten Reihe ein junger Mann saß, weinend und am Boden zerstört. Und in der ersten Reihe die Familie, die nicht in den Mund nehmen konnte, dass ihr verstorbener Sohn schwul und an HIV verstorben war. „Damals war das noch ein absolutes Tabu.“

Doch die guten Gespräche überwogen, wie ein Trauergespräch mit Sohn, Schwiegertochter, Bruder, Tochter und Enkel. Fünf Leute vor ihr und jeder erzählte etwas anderes über die verstorbene alte Dame. „Da dachte ich: Gott, ich muss ja nicht einen Menschen beerdigen, sondern fünf!“ Doch da sei etwas Wahres dran: „Jeder Mensch hat eine ureigene Beziehung zu dem Verstorbenen.“
 

„Ich kann Trost nicht machen, er geschieht – oder nicht“

Eine Engelsstatue auf einem Grabstein mit Namen Verstorbener

Die Endgültigkeit des Todes, der womöglich ewige Abschied von Geliebten und Nahestehenden, er kann uns das Herz zerreißen. Was bringt uns Trost in dieser Zeit? „Trost ist wie Glück oder Liebe, das ereignet sich und was es letztendlich genau ist, was uns tröstet, das wissen wir oft nicht.“ Und natürlich gibt es untröstliche Lebenssituationen, das weiß die ehemalige Pastorin wohl besser als manch anderer. 

Trost kann sich für einen Moment ereignen, sagt Erler. Warum genau, das ist so individuell, wie der Mensch: eine Berührung, eine Geste, ein Lied. „Ich kann Trost nicht machen, genauso wenig wie Liebe oder Glück. Das sind Dinge, die geschehen – oder nicht.“ Die Trauer geht in ihren Augen nie völlig vorbei, aber sie verändert sich. „Sie ist so bunt und unterschiedlich wie das Leben – und das gilt auch für den Trost.“
 

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