Singen

Wie die Kirche ihre Stimme erhebt

Ein Bild von einem Chor in der Kirche mit einem Icon versehen

Glauben, Denken, Singen

Kaum etwas verbindet die Kirche so sehr wie der Gesang – und kaum etwas wirkt zugleich so selbstverständlich. Warum das Singen im Glauben mehr ist als Begleitung: eine Bewegung vom Kopf ins Herz. Teil unserer Reihe “theologisch betrachtet”.

In der evangelischen Kirche wird gesungen. Theoretisch. Praktisch stehen viele da, halten das Gesangbuch, bewegen die Lippen – und hoffen, dass die Lauten in der hinteren Reihe den Rest übernehmen. So richtig himmelhochjauchzend ertönt es selten in den meisten Gottesdiensten; meist geht es eher in Richtung eines undeutlichen Murmelns aus den Bankreihen. Die Stille ist höflich, das Murmeln dezent. 

Dabei ist die evangelische Kirche in ihren Ursprüngen immer auch eine singende Kirche. Luther setzte zwar auf die Schrift – Stichwort: Sola Scriptura, dem Herzstück der evangelischen Tradition –, aber er ließ sie singen. „So sie’s nicht singen, werden sie’s nicht glauben“, schrieb er. Er brachte die Musik in den Glauben und machte den Gesang zur demokratischsten Form der Theologie: jeder Ton ein Bekenntnis, jedes Lied ein Stück Freiheit.
 

Sola Scriptura: Lateinisch für „allein die Schrift“.

Das Prinzip gehört zu den Grundsätzen der Reformation. Martin Luther stellte damit die Bibel als höchste Autorität über alle kirchlichen Traditionen, Lehrmeinungen und Hierarchien.

Nicht der Papst, nicht die Konzilien, sondern die Heilige Schrift selbst gilt als verbindliche Quelle des Glaubens.

Als Luther das Singen (wieder)entdeckte

Vor der Reformation war der Gesang im Gottesdienst Sache des Klerus oder der Chorschola; die Gemeinde hörte zu. Mit Luther änderte sich das: Er übersetzte und dichtete Lieder auf Deutsch, sodass alle mitsingen konnten. Der Gemeindegesang wurde zum Kern des neuen Gottesdienstes. Mit der Reformation bekam der Glaube also eine Stimme – und viele Stimmen zugleich.

Luther wusste, was er tat, als er das Lied in die Kirche brachte. Der Glaube beginnt nicht im Kopf, sondern ist ein ganzheitliches Phänomen. Wenn der Glaube gesungen wird, wird er leibhaftig. Dann beteiligt sich das Herz, die Stimme, der Atem. Dann glaubt man nicht nur mit dem Kopf, sondern ist voll und ganz involviert – mit Leib, Seele und Geist.

Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy – sie alle formten aus Luthers Idee eine Klangwelt, in der Denken und Glauben, Empfindung und Ausdruck eins werden konnten. Die Musik wurde zu einer eigenen Form der Theologie: Sie komponierten den Glauben als Erfahrung, nicht als These.
 

Die leise Verlegenheit

Doch der ‚moderne‘ Mensch – und der moderne Protestant vielleicht besonders – hat ein eher distanziertes Verhältnis zu Leiblichkeit, vielleicht auch zu Sinnlichkeit überhaupt.

Singen mag ihm peinlich sein. Singen macht verletzlich. Es ist nicht kalkulierbar. Die Stimme kann brechen, der Ton verfehlt werden, die Atmung stocken, wie auch immer, man verrät jedenfalls Emotion. Und: im Gottesdienst ist man nie anonym. Jeder hört Jeden – und wer laut singt, riskiert, dass andere sich umdrehen. Es ist ein Raum ohne ironische Distanz.

Vielleicht hängt das mit einer älteren Gewohnheit zusammen: Der Protestantismus hat eine starke intellektuelle Tradition. Er vertraut auf das Wort, auf die Predigt, auf die vernunftgeleitete Auslegung des Glaubens. Leidenschaft gilt schnell als schwärmerisch und unreflektiert, beinahe mit einer gewissen Scham vor dem Emotionalen.
 

Mehr als gedacht

Aber wer nur denkt, verliert irgendwann den Atem. Musik ist Bewegung – sie verbindet Körper, Gefühl und Geist und eröffnet im Glauben jene Räume, die jenseits des Rationalen liegen.

Manche Forscherinnen und Forscher gehen sogar davon aus, dass Musik die ursprünglichste Form religiöser Erfahrung ist und sehen darin den ältesten Weg, Gott oder den Göttern zu begegnen.

Singen in der Kirche drückt also etwas sehr Elementares aus – vielleicht den grundlegendsten Reflex des Glaubens überhaupt.
Schon im Kolosserbrief heißt es:

„Singt Gott in euren Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt, denn ihr seid in Gottes Gnade.“

Vielleicht wird in der Kirche deshalb so viel gesungen,  weil der Glaube ohne Musik zu vernünftig wäre. Das Lied ist die Erinnerung daran, dass der Verstand Sehnsucht hat.
 

theologisch betrachtet

Theologische Referentin Lale Raun

Lale Stella Raun ist Diplom-Theologin und Kommunikationsreferentin für Kirche Hamburg. In “theologisch betrachtet” schreibt sie über Phänomene aus Alltag, Religion und Kultur, die sie aus spirituell-akademischer Perspektive deutet.

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