19.11.2025
Kirche und Gesellschaft

Wie kann sich Kirche gegen rechte Vereinnahmung wehren?

Prof. Dr. Kristin Merle

Wie rechte Strömungen christliche Werte instrumentalisieren

Rechte Akteur*innen greifen gezielt christliche Symbolik und Narrative auf – ein Thema, das Kirche und Theologie fordert. Warum klare Grenzen wichtig sind und wie Kirchen angemessen reagieren können, erklärt Prof. Dr. Kristin Merle im Gespräch.

Von Christian Schierwagen

Das Erstarken rechter Positionen führt zunehmend zu einer Vereinnahmung des Christlichen. Die Ev.-Luth. Kirche in Hamburg und ganz Deutschland steht vor der Herausforderung, sich eindeutig zu positionieren und Missbrauch des Christlichen offen zu benennen. 

Im Interview spricht Prof. Dr. Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. Im Gespräch geht es um Möglichkeiten, wie Kirche und Theologie der Problematik begegnen können, und warum das Thema für die kirchliche Arbeit so relevant ist.

Klare Positionen gegen rechte Vereinnahmung

Christian Schierwagen: Frau Dr. Prof. Kristin Merle, warum sind Positionen der Rechten eigentlich ein Thema für Theologie und Kirche?

Prof. Dr. Kristin Merle: Wenn sich Positionen aus dem Rechtspopulismus oder der extremen Rechten auf christliches Gedankengut beziehen, wie christliche Symbolik oder Narrative, dann ist das eine Problemanzeige. Da sind Kirche und Theologie gefragt klarzustellen, was aus theologischer Sicht vertretbar ist – und was nicht.

Dann geht es auch darum, gezielte Manipulation zu benennen und den Missbrauch des Christlichen offenzulegen. Da muss man schneller sein als bisher, öffentlich Position beziehen und Dinge klarstellen.

Abgrenzung oder Aussitzen?

Schierwagen: Inwiefern wird die Ev.-Luth. Kirche diesem Anspruch in Ihren Augen aktuell gerecht?

Prof. Dr. Merle: Auf kirchlicher Seite gibt mittlerweile sehr klare Positionierungen zur Abgrenzung zur extremen Rechten und menschenfeindliche Positionen.

Trotzdem fürchte ich, dass viele immer noch denken, dass die gegenwärtige Popularität von rechtem Gedankengut eine vorübergehende Sache ist, die man aussitzen kann. Das glaube ich nicht, und ich bin der Überzeugung, dass Aussitzen und Abwarten nicht die richtige Taktik sind – ebenso wenig, wie der Versuch von Akteur*innen der gesellschaftlichen Mitte, sich Positionen von Akteur*innen der extremen Rechten anzunähern. Theologisch muss man, das habe ich bereits erwähnt, schneller auf problematische Einlassungen und Vereinnahmungen der extremen Rechten reagieren. 

Es ist mir an dieser Stelle immer wichtig zu unterscheiden: Auf der einen Seite ist es wichtig, mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die selbst Interesse am Austausch haben. Mit Gemeindemitgliedern zum Beispiel. Dann gibt es aber Leute der extremen Rechten, auch der AfD, die strategisch agieren, und die kein Interesse am Diskurs haben. Egal, was sie behaupten. Wir müssen lernen, theologisch klar und kompromisslos zu sein, wenn es von dieser Seite um Menschenfeindlichkeit und Zerstörung demokratischer Institutionen geht.

Missbrauch christlicher Symbolik im rechten Diskurs

Schierwagen: Haben Sie ein konkretes Beispiel zu christlicher Symbolik, die im rechten Kontext missbraucht wird?

Prof. Dr. Merle: Sehr verbreitet ist zum Beispiel die Verdrehung des Verständnisses von Nächstenliebe. Im eigentlichen christlichen Verständnis ist der Nächste eben nicht zwingend der Nachbar oder eine Familienangehörige, sondern jeder Mensch. Es geht also nicht um Sympathie oder Antipathie, Nähe oder Ferne, sondern um eine grundsätzliche Haltung der Verantwortung meinen Mitmenschen gegenüber.

Im rechten Kontext wird dieses Verständnis häufig verdreht und total eingeengt: „Der Nächste“ ist nur dann nur noch der direkte Nachbar, der der zum „eigenen Volk“ gehört etc..  

Daraus resultiert dann zum Beispiel die Haltung: Wir lehnen Migration ab und sanktionieren sogar, dass Menschen aus einer Notsituation heraus zu uns kommen und Hilfe erbitten.

Tradwives: Rollenbilder im rechten Diskurs

Schierwagen: In diesem Zusammenhang fällt mir die Tradwives-Bewegung ein. Bei dieser wird stark auf eine Rolle der Frau Bezug genommen, die dem Mann zugewandt und untergeordnet ist. Glaube ist oftmals ebenfalls sehr wichtig. Wie schätzen Sie das ein?

Prof. Dr. Merle: Tradwives sind Teil einer konservatistischen Bewegung, teils auch der extremen Rechten. Es handelt sich um Akteurinnen vor allem in den Social Media, die Frauen das Lebensmodell einer häuslichen Existenz als gehorsame Ehefrau und Mutter empfehlen und die vorgeben, über den Bezug auf vermeintliche Traditionen Orientierung in einer unübersichtlichen Welt bieten zu können. Sind die Influencer*innen christlich, wird diese Orientierung als Rückbezug auf eine „natürliche Ordnung“  als gottgewollt dargestellt.

Grundsätzlich soll in einer Demokratie jeder Mensch das eigene Leben so gestalten können, wie er möchte – die Grenze der Tolerablen ist überschritten, sobald aus dieser Gestaltung doktrinäre, antipluralistische und antidemokratische Forderungen entstehen. Das bedeutet: Wenn Lebensmodelle indiskutabel werden, wenn andere Lebensmodelle abgewertet und diskriminiert werden, wenn Rassismus und Menschenfeindlichkeit dazukommen – das ist bei rechten Tradwives der Fall – dann ist es Zeit, auch aus theologischer bzw. kirchlicher Perspektive zu handeln, zumal wenn sich solche Influencer*innen auf vermeintlich christliches Gedankengut beziehen.

Kirche als pluraler Ort und ihre Möglichkeiten

Schierwagen: Wie kann die Ev.-Luth. Kirche hier agieren?

Prof. Dr. Merle: Ich halte nach wie vor viel vom Konzept der Volkskirche – nicht im Sinne einer großen, mehrheitlichen Mitgliedschaft der Bevölkerung, diese Zeiten liegen ja hinter uns, sondern als Prinzip der Pluralität. Mir ist wichtig, dass wir weiterhin an einem Kirchenbild festhalten, das auf der Einheit der Verschiedenen beruht. 

Das lässt sich auch theologisch, etwa mit dem Bild von den vielen Gliedern eines Leibes, gut beschreiben: Wir müssen nicht alle einer Meinung sein, weder theologisch noch politisch, aber wir haben etwas Gemeinsames, worauf wir uns beziehen. Dieses Gemeinsame ist das verbindende Ringen um das, woran wir als Christ*innen glauben.

Die Kunst besteht darin, miteinander ins Gespräch zu kommen. Also Menschen mit verschiedenen politischen oder theologischen Positionen nicht nur anzusprechen, sondern wirklich ins Gespräch zu kommen. Das wird an manchen Stellen versucht, etwa mit den Verständigungsorten der EKD. Grundsätzlich müssen wir aber stärker den Dialog suchen – nicht nur mit Kampagnen, die unsere Menschenfreundlichkeit behaupten, sondern auf Gemeindeebene: In den kirchlichen Orten, wo ausgehandelt wird, was wichtig ist.

Herausforderung Social Media: Schnelle Narrative, langsame Reflexion

Schierwagen: Das klingt gut und richtig – und schwerfällig. Auf Instagram, X und vor allem TikTok geht es schneller vonstatten. Da propagieren teils fundamentalistische Christ*innen mit mehreren Videos täglich ein vermeintlich einfaches Weltbild von Schwarz und Weiß und missbrauchen christliche Symbolik für ihr Narrativ.

Prof. Dr. Merle: Ja, auffällig ist die Vielzahl rechter christlicher Influencer*innen, die rasch und pointiert reagieren. Viele inszenieren sich als Kämpfer*innen für Wahrheit und Meinungsfreiheit, und Dinge werden verdreht. Das hat man ganz eindrücklich im Nachgang zur Ermordung des US-amerikanischen politischen und religiösen Aktivisten Charlie Kirk gesehen, der gleich zum Märtyrer stilisiert wurde, obwohl er nachweislich menschenverachtende und demokratiezersetzende Positionen vertreten hat. 

Diese Situation der beschleunigten, auch emotionalisierten Kommunikation ist für die klassische Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen ein Dilemma: Einerseits will man sich nicht der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen und schnell und emotionalisiert Halbgares in die Welt setzen. Ich finde den Anspruch reflektierter Meinungsbildungsprozesse, die eben ihre Zeit benötigen, unaufgebbar.  
Aber sobald man sich die Dinge differenziert und in Ruhe anschaut, ist das schon im Ansatz nicht kompatibel mit der aktuellen Aufmerksamkeitsökonomie, mit der wir leben, in der es immer schon auf den nächsten Aufreger zusteuert. Diese Aufmerksamkeitsökonomie ist im Grunde diskursfeindlich und ist auf den schnellen Gewinn aus, oft auf Kosten des Inhalts.

Kirche im digitalen Diskurs

Schierwagen: Haben Sie eine Idee, wie Kirche aus diesem Dilemma herauskommt?

Prof. Dr. Merle: Es geht darum, pointiert und schneller zu argumentieren und Positionen klar und überzeugend zu vertreten. Dabei reicht es nicht aus, den Akteur*innen und Positionen entgegenzuhalten wie: „Das ist nicht christlich.“ Das ist erst einmal auch nur eine Behauptung, und nicht wenige der rechten christlichen Influencer*innen sind ja überzeugt, dass sie christlich handeln und glauben. Warum aber nicht theologische Faktenchecks einführen? Und Personen gezielt und hauptamtlich mit der Aufgabe betrauen, theologisch argumentierend in problematische Darstellungen von religiösen Rechten zu intervenieren?

Schierwagen: Oft hört man das Argument „Das ist nicht politisch, das ist christlich“. Wie ist dazu Ihre Haltung, ist das überhaupt möglich?

Prof. Dr. Merle: Für mich ist das Politische ein Raum, in dem Menschen gemeinsam aushandeln, wie sie leben, und wie sie die Welt gestalten wollen. Sobald das Christliche einen Einfluss auf dieses Zusammenleben nimmt, hat es immer auch eine politische Dimension.

Natürlich kann eine Predigt tagespolitische Bezüge haben, aber für mich wird sie erst dann wirklich politisch, wenn sie Menschen motiviert, ihr Leben gemeinschaftlich und sozial mit anderen auszuhandeln. 

Kurz gesagt: Das Christliche hat immer politische Implikationen und Effekte. Wenn rechte Akteur*innen sagen: „Das ist rein christlich und nicht politisch“, ist das Augenwischerei und eine Verdrehung der Tatsachen.
 

Prof. Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. 

Schwerpunktmäßig befasst sie sich in ihrer Forschung mit Fragen von Religion, Theologie und Öffentlichkeit, sozialer Epistemologie und der politischen Dimension des Religiösen, Religion und Rechtspopulismus/-extremismus und der Mediatisierung von Religion und Religiosität.
 

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